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    Kapitel 38: Donnerstag, 15 Uhr 02, Anlegestelle


    Thomas war völlig fassungslos. Von der Yacht waren nur noch Teile des Bugs stehen geblieben, der mittlere Rumpf war komplett zerstört und die angekohlten Trümmerstücke und verbogenen Geländer lagen wild im unruhigen Ozean verteilt. Manche Teile waren durch die Druckwelle sogar bis ans Land geschleudert worden. Erst jetzt bemerkte der junge Schotte, dass Björn Ansgar Lykström röchelnd neben ihm lag und sich stöhnend eine Platzwunde an der unteren Hälfte seiner Stirn hielt. Das Blut quoll zwischen seinen Finger hindurch und tröpfelte auf den matschigen Rasen. Unweit von ihm entfernt lag ein runder Blechteil, dessen Rand voller Blut war und den Schweden wohl unmittelbar nach der Explosion getroffen hatte. Der junge Englischlehrer konnte von Glück sagen, dass er mit einer Platzwunde davon gekommen war.

    Ein nervöser Rundblick bestätigte Thomas zunächst, dass die anderen Gäste zwar benommen waren, sich schmerzend die Ohren zuhielten oder entsetzt jammerten, ansonsten aber unverletzt zu sein schienen. Auch er selbst fühlte sich benommen und ihm wurde schwindlig, als er sich einige Schritte vorwärts bewegte.

    Er blickte auf die Anlegestelle oder vielmehr auf das, was davon übrig geblieben war. Einige zerborstene Holzplanken und verrußte Trümmerteile. Lediglich die letzten anderthalb Meter des Steges waren noch einigermaßen intakt. Als Thomas zur Seite schielte, bemerkte er auch einen regungslosen Körper, der etwa zehn Meter von der Küste entfernt im Meer trieb. Thomas bekam einen Kloß im Hals und einen plötzlichen Schweißausbruch, als er realisierte, dass Hamit Gülcan seine Neugierde mit dem Tod bezahlt hatte. Der Schotte sah die zerfetzten Kleider und den verrußten Haarschopf des Türken, dessen entstellter Körper gnädigerweise auf dem Bauch schwamm und somit den Anblick auf die größten Verletzungen und Verstümmelungen ersparte.

    Thomas schauderte, als er daran dachte, dass sie alle ungemeines Glück gehabt hatten. Wenn die Gruppe das Schiff auch nur eine halbe Minute früher betreten hätte, wären sie jetzt vermutlich alle tot oder wenigstens schwerverletzt. Hatte der unbekannte Täter sie alle ausschalten wollen und war gescheitert oder hatte er es wieder speziell nur auf eine Person abgesehen?

    Die erste Person, die nach diesem Vorfall wieder das Wort ergriff, war der vorlaute Direktor und Schlossherr. Doch er sprach nicht so überzeugt, arrogant und überlegen wie sonst. Man merkte ihm seine Unsicherheit und Angst an. Zum ersten Mal sah Thomas Tränen in den Augen des unfreundlichen Österreichers. Mit bebenden Lippen wandte er sich zu der Menge um, er zitterte am ganzen Körper und schüttelte betäubt seinen Kopf. Immer wieder pendelte sein Blick zwischen den Anwesenden und seiner zerstörten Yacht. Ein lautes Grollen verkündete ein neues Gewitter und mit einem Mal öffnete sich die Wolken scheinbar schleusenartig und heftiger, dichter Regen stürzte gen Erde und durchnässte die verunsicherten Menschen.

    „Was habt ihr Schweine mit meiner Yacht gemacht? Wer von euch war das?“, herrschte Doktor Wohlfahrt die Gruppe an und blickte grimmig und wahllos zu einigen der Gäste.

    Er sah so aus, als würde er jeden Moment ausrasten und einen der Anwesenden attackieren. Er schien sich nur noch nicht sicher zu sein, wen sein geballter Frust treffen sollte. Keiner der Anwesenden erwiderte die verzweifelte Ansprache, denn niemand wollte die Wut des österreichischen Derwisches auf sich ziehen.

    So stand die Gruppe stumm schweigend im Regen, die meisten Anwesenden blickten monoton ins Leere, manche saßen auch verstört auf dem Boden. Lediglich der Österreicher musste sich mit Worten Luft verschaffen.

    „Es geht doch um mich, nicht wahr? Das alles passiert in meinem Schloss. Meine Gäste werden umgebracht, meine Yacht zerstört, mein Grundstück wird missbraucht. Ich bitte denjenigen, der hinter all dem steckt hiermit zum Duell. Nur wir beide und der Stärkere gewinnt. Oder traust du feiger Bastard dich nicht? Kannst einem alten Kerl wie mir nicht die Wahrheit ins Gesicht sagen? Komm und sprich mit mir!“, keifte der Direktor und wandte sich von einer Seite zur anderen. Niemand trat vor oder kommentierte diesen Ausbruch.

    Thomas dachte über die in blinder Wut geschwungenen Phrasen näher nach. Wollte der anonyme Täter tatsächlich nur dem Schlossherr schaden, ihn verunsichern, sein Anwesen und Leben, seine gesamte Reputation zerstören? Konnte darin das Motiv eines kranken Menschen liegen? Thomas bezweifelte nun, dass der Tod des Türken in das bisherige Schema passte. Vorher hatte er sich überlegt, dass der mutmaßliche Täter Jeanette und all ihre Liebhaber ermorden wollte, vielleicht aus Neid, Rachsucht oder wegen einer unerfüllten Liebe. Der tote Türke war zwar von der schönen Französin umgarnt worden, doch zu einem Verhältnis war es wohl nie wirklich gekommen. Daher machte die Theorie für den jungen Schotten keinen Sinn mehr. Er ging davon aus, dass die Morde psychologische Ursachen hatten. Jemand wollte seine Macht beweisen, sich übermächtig fühlen und Panik erzeugen. Wer aber war so sadistisch veranlagt?

    Der Direktor hatte sich inzwischen in Rage geredet und verstummte dann doch empört. Er warf einen wehmütigen Blick auf die Trümmerteile der Yacht. Es schien ihn eher zu bedrücken, dass sein teures Gefährt zerstört worden war, als dass dabei einer seiner Gäste auf tragische Weise ums Leben gekommen war.

    „Na schön. Es wird sich noch zeigen, wer von uns mehr Ausdauer hat!“, sprach er drohend, wandte sich schnurstracks von den Anblick der Yacht ab und marschierte forschen Schrittes auf die Anwesenden zu, die sofort hastig eine Gasse bildeten und dem aufbrausenden Direktor auswichen.

    Doktor Wohlfahrt ging zielstrebig auf das Schloss zu und rief mit einer herrischen Bewegung seinen Butler und seinen Koch zu sich, die ihm folgten. Selbst der sonst so abgebrühte Koch schwitzte jetzt bei diesem schwülen Gewitter aus allen Poren und blickte sich mehrmals ängstlich um. Der Butler hatte einen seltsam unrunden Gang und verkörperte die pure Nervosität.

    Erst bei Marilou Gauthier blieb der Direktor stehen und forderte barsch den Schlüssel zum Eingangsportal zurück. Die Kanadierin ließ sich fast provokativ lange Zeit und gab ihm dann den Schlüssel mit finsterer Miene und begegnete dem drohenden Blick des Schlossherrn mit ebenso grimmiger Stärke. Das kurze Nervenduell wurde dadurch abgebrochen, dass sich der Direktor hastig zur Seite wandte und wieder zielstrebig auf das Eingangsportal zuging. Marilou Gauthier sah ihm mit einem triumphierenden Lächeln hinterher. Vermutlich war es für die mental geschwächte Frau ein kleiner Erfolg, dass sie sich nun nicht hatte einschüchtern lassen. Aber seit der Explosion der Yacht war jeglicher Schimmer Hoffnung wieder aus ihrem Blick verschwunden und hatte der alten Kälte Platz gemacht.

    Ohne sich umzudrehen gelangte der Schlossherr zum Portal, schloss dieses unter großem Lärm auf, drängte seine beiden Untergebenen in den Eingangsbereich, drückte die gewaltige Türhälfte wuchtig zu und man hörte wie er den Bereich von innen abschloss.

    Die Gruppe hatte diese Ereignisse starr und mit einem bedrückten Gefühl verfolgt. Niemand hatte auch nur versucht dem bösartigen Schlossherr zu folgen. Erst der aufbrausende Koreaner realisierte dann, was soeben geschehen war.

    „Der Irre hat uns ausgesperrt!“, rutschte es Gwang-jo heraus, sah sich empört um und suchte in der Menge nach Zustimmung.

    „Wir werden durch den hinteren Bereich gehen. Die Hintertür des Weinkellers müsste offen sein.“, stellte Magdalena Osario leise fest und bewegte sich zielstrebig auf den erwähnten Ort zu. Nach kurzem Zögern folgte ihr der Rest der Gruppe.

    Der Regen prasselte immer noch hart auf die Anwesenden nieder, die Nebelschleier oder Dampfwolken waren noch einmal dichter geworden. Die Atmosphäre war bedrückt, wozu auch die drückende, klebrige Schwüle beitrug, die auf dieser Insel lastete. Auch das Wetter machte allen zu schaffen, alles schien sich gegen die Anwesenden verbündet zu haben.

    Nach kurzer Zeit erreichte die junge Spanierin, deren elegantes schwarzes Haar völlig durchnässt war und wirr in ihr Gesicht hing, die Hintertür des Schlosses. Sie drückte die Klinke nach unten, doch sie musste enttäuscht feststellen, dass sie abgeschlossen war.

    Thomas war ein wenig abseits stehen geblieben und warf einen Blick zurück auf die Unglücksstelle. Dort war lediglich Paola Francesca Gallina, die nahe dem Steg kniete und in einem meditativen Gebet versunken war. Sie weinte still und ihre Gestalt verschwamm mit den düstergrauen Nebelschleiern.

    „Gibt es keinen anderen Weg in das Schloss?“, fragte Gwang-jo verärgert und nestelte in den Tiefen der Taschen seiner Lederjacke nach seiner Zigarettenschachtel.

    „Leider nicht.“, gab Magdalena Osario grimmig zurück und schlug mit der Faust gegen die verschlossene Tür.

    Ihr Geliebter legte ihr seine Hand auf die Schulter und flüsterte beruhigend auf sie ein. Die Spanierin ergriff seine Hand und hauchte ihm mit einem traurigen Lächeln einen Kuss auf die Wange. Als der Schwede sie näher an sich drücken wollte, löste sie sich aus seiner Umarmung, blickte betrübt zu Boden und schritt mit hängenden Schultern in Richtung der Grabsteine im Schlossgarten.

    „Wann wird uns dieser Verrückte wieder ins Schloss lassen?“, fragte Gwang-jo weiter und zündete sich mit grimmiger Wut seinen Glimmstängel an, während er das Streichholz achtlos ins nasse Gras fallen ließ..

    „Darauf haben wir doch längst keinen Einfluss mehr. Uns sind die Hände gebunden. Wir können nichts tun, als zu warten.“, gab Björn Ansgar Lykström sarkastisch zurück.

    „Ich will aber nicht warten, verdammt! Lasst uns ein Fenster einschlagen!“, schlug der Koreaner vor und warf einen beifallheischenden Blick in die Runde.

    „Das macht doch keinen Sinn. Die meisten Fenster liegen doch recht hoch, sodass wir kaum von hier aus dort hineinklettern könnten und außerdem würde die Situation dann noch weiter eskalieren.“, widersprach ihm der schwedische Englischlehrer.

    „Er lässt die Situation eskalieren. Wir können nichts dafür!“, widersprach der Koreaner dem Lehrer vehement.

    „Wir werden erst Ruhe haben, wenn wir diesen rücksichtslosen Mörder gefasst haben.“, erwiderte der Schwede grimmig.

    „Das ist doch leichter gesagt, als getan. Mir ist völlig schleierhaft, wer dahinter stecken könnte. Ich kann das alles noch gar nicht fassen!“, warf Fatmir Skola ein, der sich unruhig im Kreis bewegte.

    „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht schon tot sind, bevor wir des Rätsels Lösung finden.“, warf Elaine Maria da Silva trocken mit schwarzem Humor ein.

    „Sag so etwas nicht, sonst beschwörst du es noch herauf.“, warf Paola Francesca Gallina ein, die ihr Gebet beendet hatte und unbemerkt zur Gruppe gestoßen war. Ihre Augen waren tränenverschmiert, ihr Gesicht gerötet.

    „Es muss irgendeine Methode hinter den Morden stecken.“, warf Mamadou zögernd ein.

    „Wenn wir wüssten welche, dann wären noch alle am Leben.“, warf Gwang-jo ironisch und unecht lachend ein und blies demonstrativ den trüben Dunst seiner Zigarette in den grauen und deprimierenden Himmel.

    „Vielleicht gibt es eine Spur. Der Täter ist ein intensiver Beobachter. Alle drei Opfer sind auf Grund ihrer Hobbies und Passionen gestorben. Malcolm war ein begeisterter Patriot und Dudelsackspieler, Jeanette eine begehrte Frau mit vielen Beziehungen, Hamit ein Schiffsnarr. Jeder von uns sollte überlegen, wo seine persönlichen Vorlieben und Schwächen liegen und an diesen arbeiten, sodass sich die Möglichkeiten des Täters verringern. Die Raucher unter uns sollten beispielsweise in den nächsten Tagen keine Zigarette mehr anrühren. Wir müssen uns so verhalten, wie es der Mörder nicht erwarten würde.“, führte Mamadou seine Idee aus und erntete allgemeine Zustimmung und zögerliches Nicken.

    „Das ist doch Unsinn. Wir könnten jeden Tag beim Essen vergiftet oder im Schlaf erstickt werden.“, warf der Koreaner widerspenstig ein und sog kräftig an seiner Zigarette, was Mamadou mit einem sarkastischen Kopfschütteln wahrnahm.

    „Das glaube ich nicht. Der Täter will jeden Mord zu einer Art Kunstwerk machen. Er bringt auch nur eine Person jeweils um und wird somit nicht in der folgenden Nacht alle im Schlaf umbringen.“, mischte sich nun auch Thomas ein.

    „Ich bin mir nicht sicher. Wie konnte der Täter die Explosion so genau planen? Eine Minute später und wir wären alle schon auf der Yacht gewesen.“, warf Abdullah Gadua erstmals ein.

    „Eben nicht. Er wusste, dass Hamit Gülcan als Erster dort sein würde.“, widersprach Mamadou nun, der spontan mit der Idee seines Kollegen übereinstimmte.

    „Der Direktor hat uns doch aufgehalten. Er ist stehen geblieben und hat aus sicherem Abstand mit Hamit Gülcan gesprochen. Er war in dem Moment der Anführer unserer Gruppe und hat uns kontrolliert. Ich bin davon überzeugt, dass er dahinter steckt.“, führte Gwang-jo aus und entwarf somit eine neue Verschwörungsthese.

    „Raten hilft uns nicht weiter. Wir müssen nach anderen Mustern suchen. Bis jetzt sehe ich leider noch keine.“, musste Mamadou gestehen.

    „Anstatt wilde Theorien zu entwerfen, sollten wir alle zusammenhalten und uns gegenseitig schützen. Mit einem gewissen Gruppengefühl und göttlicher Unterstützung können wir diesen Mensch gewordenen Dämon stürzen und waffenlos machen.“, schlug nun Paola Francesca Gallina vor und der Koreaner kommentierte diesen Einwurf mit einem fiesen Lachen.

    „Göttliche Unterstützung wird uns auch nicht helfen. Wir müssen das Problem selbst lösen und alle potentiellen Kandidaten ausschalten.“, fuhr der Koreaner ihr aggressiv in die Parade und unterstrich seine Worte, indem er grimmig die Zigarette austrat, die er soeben verächtlich zu Boden geworfen hatte.

    „Ausschalten? Wie stellst du dir das vor?“, fuhr in Abdullah Gadua in einer Mischung aus Erstaunen und Entrüstung an.

    „Wir werden zuerst diesen irren Direktor gemeinschaftlich in eine Zelle einsperren und sein Hilfspersonal auch. Dann werden wir sie überwachen und sind den willkürlichen Ausbrüchen dieses Fieslings nicht mehr ausgesetzt.“, erläuterte Gwang-jo seinen Plan und Abdullah wandte sich sarkastisch lachend und kopfschüttelnd ab.

    „Zunächst sollten wir so einen Choleriker wie dich einsperren.“, herrschte der Katarer den Koreaner an, der sich wütend umdrehte und drohend die Hand zur Faust ballte.

    „Der Vorschlag ist absolut unsinnig. Aber die Idee der Überwachung ist nicht schlecht. Wir werden nachts Wachen aufstellen, die im Flur patrouillieren. Damit für Sicherheit gesorgt ist, werden immer zwei oder am besten drei Leute gleichzeitig Wache halten.“, schlug Thomas vor und erntete Zustimmung von den meisten der Anwesenden und ein anerkennendes Nicken seines provisorischen Kollegen Mamadou.

    „Ich habe nicht vor mir die Nächte um die Ohren zu schlagen.“, brummte Gwang-jo ungehalten, doch er wurde deutlich überstimmt.

    „Wenn du es vorziehst zu sterben, dann lass es eben sein.“, provozierte Abdullah ihn angriffslustig und der Koreaner versteifte sich.

    „Das ist aber noch keine vollständige Lösung. Niemand sollte mehr allein unterwegs sein. Egal ob es das Spazieren gehen draußen ist oder der Gang in die Sauna. Wir sollten immer mindestens zu zweit oder noch besser zu dritt unterwegs sein, außer nachts, dafür sind dann ja auch die Wachen da.“, führte Thomas seinen Plan weiter aus.

    Auch Mamadou ging jetzt auf diese Ideen ein und versuchte die Wachen organisatorisch zu regeln. Es wurde bestimmt, dass die erste Wache von zehn Uhr bis nachts um drei Uhr gehen sollte und die Ablösung bis acht Uhr morgens aufpassen könnte. Für die erste Schicht ließen sich Thomas, Fatmir und Elaine Maria da Silva einteilen, während die zweite Schicht Magdalena Osario, Björn Ansgar Lykström und Mamadou übernehmen wollten.

    Nach dieser Diskussionsrunde bewegte sich die Gruppe, durchnässt und entnervt, wieder zurück zum verschlossenen Eingangsbereich. Begleitet wurden sie dabei von einem dunklen Grollen und von grell blendenden Blitzen, die über dem Meer ihr Unwesen trieben und ihre elektrischen Greifarme wie Klauen ausfuhren.

    „Ich befürchte, dass jetzt das große Warten beginnt.“, stellte Abdullah Gadua ernüchtert fest und hielt die Hand seiner Frau, die wieder unruhig und missmutig wirkte und sichtbar am Nachdenken war.

    Unwillig fügten sich die Gäste in ihr Schicksal, zermarterten sich die Köpfe und drängten sich beunruhigt an das schmale Eingangsportal, wo sie wenigstens von dem dichten Regen einigermaßen verschont blieben.

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    Kapitel 39: Donnerstag, 17 Uhr 06, Eingangsportal


    Es dauerte mehr als eine Stunde, bevor wieder irgendetwas geschah. Die Gruppe stand schweigend, manchmal hustend am Frontportal oder auch im durchnässten Vorgarten und jeder hing seinen düsteren Gedanken nach. Einige Male hörte man noch das entfernte Heulen des Wolfes, über den auch eifrig spekuliert wurde. Niemand konnte sich auf das Auftreten des Wesens einen Reim machen.

    Mit einem Mal wurde das Eingangsportal geöffnet und der Schlossherr stand böse grinsend und triumphierend vor ihnen, eingerahmt von seinem unruhigen Butler und dem wieder ruhigen und unbeteiligt wirkenden Koch. Natürlich ließ der Direktor sich die Gelegenheit nicht entgehen, um zu einer weiteren Rede anzusetzen.

    „Willkommen zurück im Schloss. Ich hoffe, dass Ihnen allen die frische Luft draußen gut getan hat und Sie sich auch miteinander amüsiert haben. Ich habe einige Vorkehrungen getroffen, die dem Schutz aller Anwesenden dienen. Ziehen Sie sich um und seien Sie in einer Stunde im Speisessaal.“, erwähnte der Österreicher mit einem geheimnisvollen Grinsen, wandte sich listig blickend um und bewegt sich ohne ein weiteres Wort allein in den Speisesaal zurück, von wo aus er sein Büro ansteuerte.

    Der Koch trottete ebenfalls langsam fort und steuerte vermutlich die Küche an, um die nächste Mahlzeit vorzubereiten. Er schien kaum ein Problem damit zu haben nach all den Erlebnissen wieder wie gewohnt zur alltäglichen Pflicht überzugehen. Lediglich der Butler verweilte steif und dennoch unruhig neben dem Portal und wartete, bis alle Anwesenden eingetreten waren. Sofort trat Gwang-jo drohend auf ihn zu, packte den überraschten Butler am Kragen.

    „Sag uns sofort, was hier gespielt wird!“, herrschte er ihn an.

    „Ich weiß es nicht.“, stammelte der Butler verwirrt und brach in Schweiß aus.

    Der Koreaner gab sich damit nicht zufrieden, rüttelte sein Gegenüber kräftig durch und verpasste ihm einen Stoß gegen den Brustkorb. Der Angegriffene prallte überrascht gegen die vertäfelte Holzwand, berührte dabei ein Bild, welches er zufällig mit einer nervösen Armbewegung aus seiner Halterung riss. Mit einem lauten Klirren zerbarst der Rahmen auf dem verzierten Boden und der Butler zuckte erschrocken zusammen.

    Gwang-jo kümmerte sich nicht um den Schaden, den er angerichtet hatte, sondern nahm seinen auserkorenen Gegner weiter in die Mangel. Er drückte ihm den Unterarm gegen die Kehle und presste mit der anderen Hand die Stirn des Angestellten zurück.

    „Was habt ihr hier getan, als wir ausgeschlossen waren?“, herrschte Gwang-jo den Butler an, der ängstlich stotternd und röchelnd zusammenhanglose Wörter hervorprustete.

    Erst jetzt reagierten Thomas und Mamadou gemeinschaftlich. Beide ergriffen fast zeitgleich jeweils einen Arm des Koreaners und rissen ihn grob von dem Butler weg. Der Koreaner hatte damit gerechnet und hob sein Bein noch zu einem schnellen Tritt aus, der den unglückseligen Butler grob im Unterleib traf. Röchelnd sank der Angegriffene zu Boden und rang nach Atem.

    Mamadou hatte den wüst protestierenden Koreaner inzwischen in eine Polizeigriff genommen. Thomas hatte sich vor den beiden aufgebaut und bekam nun den geballten Hass des Flegels ab. Der Koreaner spuckte ihm ins Gesicht, fluchte unbeherrscht und versuchte sich hektisch aus der Umklammerung zu befreien.

    In Thomas brodelte es. Diese letzte Aktion hatte das Fass der Geduld zum endgültigen Überlaufen gebracht. Mit dem Handrücken wischte er sich den Speichel von seiner linken Wange und funkelte sein Gegenüber böse an. Thomas bete am ganzen Leib und all die Angst, der Frust und die hilflose Wut entluden sich nun bei ihm.

    Er stürzte auf den Koreaner, der sich immer noch im Polizeigriff befand, zu und verpasste ihm einen fast ansatzlosen Kinnhaken. Sofort ließ der Schotte diesem Angriff einen schnellen Tritt in die Magengrube folgen und vollendete seinen schnellen Angriff mit einer verwegenen Schlagkombination.

    Gwang-jo wurde zurückgestoßen und fiel mit dem stolpernden und überraschten Mamadou zu Boden. Der Ghanaer musste den Griff lockern und rollte sich zur Seite. Bevor er eingreifen konnte, hatte sein eigentlicher Kollege wieder nachgesetzt.

    Gwang-jo hatte sich hingekniet und wollte sich in die Höhe stemme, als ihn der Tritt des Schotten erbarmungslos an der Schläfe traf und wieder zurückstieß. Röchelnd und fluchend flog er zurück und prallte mitten in der Eingangshalle hilflos zu Boden. Die restlichen nwesenden waren erschrocken zurückgewichen und hatten einen Halbkreis um die Kämpfenden gebildet.

    Bevor Thomas seine Angriffskette fortsetzen konnte, sprang Björn Ansgar Lykström dazwischen und drängte ihn zurück. Grob stieß er den Schotten in Richtung des Eingangsportals und verdrehte ihm den rechen Arm. Mit einem Schmerzensschrei sank der Schotte in die Knie und der Schwede drückte seine Fußspitze in dessen Kniekehle. Somit war Thomas zur Bewegungsunfähigkeit verurteilt.

    Gwang-jo hatte sich inzwischen wieder erhoben und hielt sich seine Platzwunde an der Stirn, die ihm der letzte Angriff eingebracht hatte. Er schüttelte benommen den Kopf, wollte in blinder Wut nun auf Thomas zustürzen, doch er wurde von Mamadou zurückgehalten, der es erneut schaffte, den Koreaner blitzschnell zu überwinden und in den Polizeigriff zu nehmen.

    „Seid ihr beiden verrückt geworden? Wir müssen doch jetzt alle zusammenhalten, heilige Mutter Gottes!“, entfuhr es Paola Francesca Gallina, die entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte.

    Von diesem Einwand ließ sich die Aggressivität der beiden Streithähne nicht eindämmen. Gwang-jo wurde in Richtung des Speisesaals gezerrt, während Lykström Thomas schließlich aus seinem Griff befreite und in Richtung der Treppe schob, um ein weiteres Aufeinandertreffen sofort zu vermeiden.

    „Das wirst du noch bereuen, du Bastard! Ich hoffe, dass dieser gottverdammte Mörder dich als Nächstes um die Ecke bringt!“, drohte Gwang-jo dem Schotten brutal, der mit gesenktem Blick und wutentbrannt die Treppe hochjagte, um unverzüglich in seinem Zimmer zu verschwinden und sich dort zu sammeln.

    Der Koreaner wurde noch kurzzeitig festgehalten und dann von Lykström und Mamadou in sein Zimmer eskortiert. Der Rest der Gruppe verfolgte das Geschehen im Eingangsbereich, während der Butler sich still entfernte und ebenfalls hektisch in Richtung seines Zimmers begab. Die Tränen standen ihm im Gesicht, er hatte große Angst und fühlte sich sichtbar erniedrigt, zumal sich durch die Handgreiflichkeiten zwischen Gwang-jo und Thomas nieamnd mehr für ihn interessierte oder sich nachs einem zustand erkundigte. Die meisten Anwesenden blickten ihm nachdenklich, aber zum Teil auch misstrauisch und sogar feindselig hinterher.

    Der schwer einschätzbare Bedienstete hatte sich auch unter enormen Druck des Koreaners um eine klare Antwort gedrückt und die Gäste hatten ein ungutes Gefühl und malten sich bereits die Horrorszenarien aus, die der sadistische Schlossherr ihnen zum angeblichen Schutz vorbereitet haben könnte.

    Nach diesem Zwischenfall begab sich jeder einzeln zurück auf sein Zimmer, um die Anziehsachen zu wechseln, sich für das Abendessen frisch zu machen oder um düsteren Gedanken nachzuhängen.

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    Kapitel 40: Donnerstag, 17 Uhr 43, Thomas Zimmer


    Thomas trat gerade stöhnend aus der Dusche, als er ein zaghaftes Klopfen an seiner Tür hörte. Rasch zog er sich etwas an und öffnete ungekämmt die Zimmertür. Er war angenehm erstaunt, als er den Butler sah, der hektisch um Einlass bat, dann eintrat und die Tür nervös hinter sich zudrückte.

    Der Butler wirkte gehetzt, drängte sich an Thomas vorbei, der ihm einen Platz anbot. Dann ließ er sich auf dem kleinen Holzstuhl nieder und wischte sich mit einem Seidentaschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Thomas nahm währenddessen auf der Bettkante Platz und musterte den unerwarteten Besuch mit Spannung.

    „Ich habe nicht viel Zeit, denn ich muss unten noch die Tische decken und dem Koch helfen, aber ich muss einfach noch einmal mit Ihnen sprechen.“, stammelte der Butler und atmete tief und stockend ein.

    „Worum geht es denn?“, fragte Thomas.

    „Sie müssen mich vor den anderen Gästen schützen. Ich bin eben tausend Tode gestorben. So etwas darf nicht noch einmal passieren. Garantieren Sie für meine Sicherheit?“, fragte der Butler den erstaunten Polizisten.

    „Nun, ich werde alles dafür tun und versuchen, die Situation unter Kontrolle zu halten. Aber wir befinden uns in einer extremen Lage, in der die Nerven blank liegen. Natürlich ist die Aktion von Gwang-jo nicht damit zu entschuldigen. Sie sind aber nicht der Erste, der mit ihm aneinander geraten ist. Ich hatte beispielsweise auch schon mehrere Ausseinandersetzungen mit ihm.“, erklärte der Schotte gelassen.

    „Der Kerl ist ein Risiko für alle Anwesenden! Passen Sie gut auf.“, mahnte der Butler ihn fast flehend und blickte ihn dabei ängstlich an. Thomas nickte gutmütig.

    „Wir werden Sie schützen.“, antwortete er und sah, dass sein Gegenüber erleichtert zurücksank und die Spannung langsam von ihm wich.

    „Ich habe noch eine Bitte.“, erwähnte der Butler nach einigen Sekunden des Schweigens und fuhr wieder aus seiner entspannteren Lage hoch.

    „Sprechen Sie.“, bat ihn Thomas mit gerunzelter Stirn.

    „Der Schlossherr soll nichts von diesem Gespräch erfahren. Am besten bleibt alles unter uns. Er soll mich nicht für einen Feigling halten.“, murmelte der Butler verlegen.

    „Ich verspreche es Ihnen.“, erwiderte Thomas, der das Gefühl hatte, als ob sein Gegenüber ihm auch noch etwas Anderes mitteilen wollen würde. Er hatte sich nicht getäuscht.

    „Dann gibt es da noch eine andere Sache...“, begann der Butler zögernd und blickte in einer Mischung aus Verlegenheit und Nervosität zu Boden.

    „Ich höre Ihnen zu.“, gab Thomas ihm zu verstehen.

    „Das sollte aber auch unter uns bleiben.“, bat der Butler ihn erneut und sah Thomas nachdenkliches Nicken. Der Angestellte räusperte sich und blickte betreten zu Boden, bevor er mit der Sprache herausrückte.

    „Ich muss Ihnen gestehen, dass ich nicht so ganz freiwillig hier bin. Ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen, als ich von meinem schauspielerischen Scheitern in Aberdeen sprach. Ich geriet damals dort an die falschen Leute und erlangte bald schon in einer anderen Domäne einen unrühmlichen Ruf.“, gestand der Butler mit leiser Stimme.

    „Sie verkauften und nahmen Drogen.“, stellte Thomas geradeheraus fest und sah den Butler erschrocken zusammenzucken, dann aber betreten nicken.

    „Das ist richtig. Erst war ich nur ein Kurier für einige Einwanderer. Es gab damals schon zwei konkurrierende Gangs in der Stadt. Ich verliebte mich unglücklich in die Tochter des anderen großen Drogenbosses und wechselte die Seiten.“, berichtete der Butler weiter.

    „Das kam dann einem unverzeihlichen Verrat gleich.“, stellte Thomas fest, der sich dank seiner Arbeit als Polizist auch mit den Geflogenheiten des Drogenmilieus ein wenig auskannte.

    „Ja das ist wohl war. Ich wurde gejagt, musste bei Bekannten untertauchen, aber irgendwann konnte ich nicht mehr fliehen. Der Vater meiner Freundin wurde kaltblütig im Theater erschossen und ich leitete zusammen mit seinem Sohn die Geschäfte.“, erklärte der Butler mit unbehaglicher Stimme.

    „Ein ziemlich rasanter Aufstieg für einen Schauspieler.“, stellte Thomas mit ironischem Unterton fest.

    „Zu rasant. Meine Freundin und ich wurden mehrere Male überfallen und attackiert. Schließlich wurden wir eines Nachts in der Hafengegend reingelegt. Der geplante Deal war eine Falle und es kam zu einer Schießerei. Meine Freundin wurde tödlich getroffen, ich konnte als Einziger fliehen. Wir haben bei der Sache drei Menschenleben und jede Menge Kokain verloren.“, erzählte er weiter und hielt kurz inne.

    „Das wird fatale Folgen gehabt haben.“, mutmaßte Thomas, der aufmerksam zuhörte und gebannt an den Lippen des Butlers hing.

    „Der Sohn des Bosses, also quasi mein Schwager, der an diesem Abend nicht dabei gewesen war, gab mir die Schuld an allem. Er verjagte mich aus dem Geschäft und schwärzte mich über Hintermänner sogar bei der Polizei an. Ich geriet mehr und mehr in einen Bandenkrieg und war plötzlich ein Schwerverbrecher. Ich hatte kein Geld und griff in meiner Verzweiflung zum letztmöglichen Mittel.“, berichtete Francis McGregor.

    „Sie haben das Kokain, das sie hier im Keller lagern, gestohlen und sich abgesetzt.“, stellte Thomas fest und ihm fiel die Lösung mit einem Mal wie Schuppen vor die Augen.

    „Woher wissen Sie das denn schon, verdammt noch mal?“, rutshte es dem schweißnassen Butler ungestüm heraus.

    „Nun, ich habe auch so meine Beobachtungen gemacht.“, orakelte der Schotte und wollte noch nicht von seinem Fund sprechen oder ins Detail gehen, sondern erst die gesamte Geschichte des Butlers erfahren.

    „Genauso war es jedenfalls. Ich nahm den Job bei Doktor Wohlfahrt dankbar an, um untertauchen zu können. Ein Kumpel von mir beschaffte mir falsche Papiere und ich schrieb einen falschen Lebenslauf. Es gelang mir tatsächlich den Direktor zu täuschen.“, beendete der Butler die Erzählung seiner kriminellen Lebensgeschichte.

    „Was passierte mit dem Kokain?“, wollte Thomas noch wissen.

    „Ich habe es heimlich mit auf das Anwesen gebracht und es eines Tages tatsächlich im Weinkeller versteckt. Ich hatte vor mich eines Tages wieder von hier abzusetzen, nach zwei oder drei ruhigen Jahren. Ich wollte das Zeug verkaufen und ein neues Leben beginnen, irgendwo im Ausland. Vielleicht auf den Kanaren. Ein Schwager von mir besitzt dort einige Ferienhäuser und Fischerhütten.“, gestand der Butler und wurde langsam selbstbewusster und auch ausführlicher.

    „Dazu ist es aber bis heute nicht gekommen.“, stellte Thomas fest.

    Sein Gegenüber schwieg und blickte betreten zu Boden. Die Schultern ließ er hängen und atmete tief durch. Nervös knetete er mit seinen Händen die Stuhllehne und wippte mit seinem rechten Fuß hin und her. Seine steife Eleganz hatte er gänzlich verloren, denn er zeigte nun seine wahre Seite und hatte seine Maskerade komplett fallen gelassen.

    „Zweifelte denn niemand an Ihrer Tarnung?“, fragte Thomas nachdenklich.

    Der Butler hob müde den Kopf und überwand sich dazu dem Polizisten zu antworten. Er merkte, dass ihm Ehrlichkeit und Ausführlichkeit am ehesten helfen konnten. Er wollte von den anderen Gästen nicht verurteilt und drangsaliert werden und erst recht nicht das nächste Opfer dieses Wahnsinnigen werden. Wer, wenn nicht die beiden Polizisten, konnten ihn noch vor dem Unheimlichen schützen?

    „Leider doch. Magdalena Osario kam dahinter, sie ertappte mich im Weinkeller, horchte mich aus und nahm mir auch die richtigen Dokumente ab, die sie jetzt irgendwo versteckt hält. Ihr Mann weiß davon nichts, die beiden haben ein schlechtes Verhältnis. Ich denke, dass ihr Freund, dieser Lykström, auch davon auch weiß.“, gestand Francis McGregor kleinlaut.

    „Was wollte Magdalena Osario für eine Gegenleistung dafür haben?“, fragte Thomas, der sofort einen Schritt weiter dachte.

    „Wie meinen Sie das?“, fragte der Butler, der mit einem mal wieder verklemmt und unsicher wirkte und sich den Schweiß mit seinem Hemdärmel von der Stirn wischte.

    „Sie wird Sie ja nicht aus Nächstenliebe geschützt haben und einfach so die Dokumente beschlagnahmt haben, nicht wahr?“, hakte Thomas mit süffisantem Lächeln nach.

    Tatsächlich senkte Francis McGregor den Kopf, atmete tief durch und blickte dann seinem Gegenüber wieder ins Gesicht. Francis McGregor wirkte müde, nervös und fahrig in seinen Bewegungen und hatte große Mühe sich zu einer Antwort durchzuringen.

    „Sie haben recht. Sie möchte, dass ich ihr bei der Flucht von der Insel helfe, gemeinsam mit ihrem Geliebten. Wir hatten es schon einmal versucht, als der Schlossherr einige Tage verreist war. Das von uns organisierte Boot war aber während seiner Abwesenheit bei dem Fluchtversuch gekentert. Wir sind so gerade mit dem Leben davon gekommen.“, berichtete der Butler schließlich.

    „Jetzt wollen Sie es zu dritt versuchen?“, hakte Thomas interessiert nach.

    „Sicher. Frau Osario würde alles dafür tun.“, gab Francis McGregor mit einem grimmigen Nicken zurück.

    „Sie würde auch über Leichen gehen?“, wollte Thomas wissen, doch sein Gegenüber senkte den Blick und gab keine Antwort.

    Thomas beobachtete ihn genau und nach einigen Augenblicken des bedrückten Schweigens hob der Butler den Kopf und stand hektisch auf. Er warf einen Blick auf seine edle Armbanduhr und eilte an dem sitzenden Thomas vorbei bereits zur Tür.

    „Wie soll es mit Ihnen eigentlich weitergehen?“, fragte Thomas und beschäftigte sich mit der bedrückenden Frage, ob er den Butler im Anschluss an all diese Ereignisse auf der Insel verraten sollte, sodass er für seine Taten büßen musste. Eigentlich war er dagegen, denn er hatte ihm selbst weitergeholfen und im Vertrauen zu dem Schotten gesprochen, allerdings widersprach diese gnädige Haltung seinem eigentlichen Beruf als Polizisten. Thomas steckte in einer Art moralischen Zwickmühle und obwohl dieses Problem eigentlich mehr als sekundär war, beschäftigte es den pflichtbewussten Schotten, der mit Verbrechern eigentlich knallhart umging, ein wenig.

    Francis McGregor hatte die Hand bereits auf der Klinke liegen, wandte sich noch einmal zitternd um und schüttelte entschlossen den Kopf.

    „Daran denke ich noch nicht. Ich werde froh sein, wenn ich überhaupt die nächsten Tage überlebe.“, sprach er voller Bitterkeit, riss die Tür auf und stieß dort fast mit Mamadou zusammen, der überrascht zurückfuhr.

    Francis McGregor warf Thomas einen nervösen Blick zu, musterte dann den Ghanaer und eilte dann schnellen Schrittes davon. Mamadou blickte ihm kopfschüttelnd hinterher und trat in Thomas Zimmer.

    „Mach die Tür hinter dir zu. Es gibt viel zu besprechen.“, forderte Thomas seinen provisorischen Kollegen auf und berichtete ihm vertrauensvoll über die neuesten Erkenntnisse.

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    Kapitel 41: Donnerstag, 18 Uhr 04, Speisesaal

     

    Mamadou hatte Thomas im Verlauf des Gespräches versprochen, dass die besprochenen Details unter Ihnen bleiben würden. Die beiden Ermittler hatten das Zimmer inzwischen verlassen und schritten durch den Gang, an dessen Wänden sich einige Gemälde befanden, die meist Vorfahren oder Freunde aus der Familie der Osarios darstellten. Erst jetzt nahm Thomas sich die Zeit die Bilder und Porträts genauer in Augenschein zu nehmen.

    Ihm fiel ein Bild auf, dass ein wenig abseits der anderen Gemälde hing, nahe der schmuckvollen Treppe gelegen. Es war das Porträt einer Dame, die Magdalena Osario sehr glich. Ihr Gesicht war lediglich etwas blasser, dafür war ihr Haar ein Tick dunkler. Besonders fielen die recht großen, haselnussbraunen Augen auf, die den Betrachter mysteriös anblickten. Thomas konnte nicht sagen warum, aber er war von diesem Bild angezogen. Es wirkte ungewöhnlich natürlich und echt. Eine kleine Inschrift am unteren Rand sagte ihm, dass das Bild eine gewisse Emanuela Lucia Osario darstellte.

    Mamadou riss den schottischen Kollegen aus seinen Beobachtungen und sie schritten gemeinsam in Richtung der Eingangshalle. Sie waren bereits ein wenig verspätet und somit allein unterwegs. Mamadou, der eigentlich immer auf Pünktlichkeit bedacht war, wollte die anderen Anwesenden nicht noch länger warten lassen.

    „Du glaubst, dass Francis McGregor die ganze Wahrheit erzählt hat?“, wollte Mamadou wissen, als sie die unheimlich hohe und nur durch Kerzenschein erleuchtete Eingangshalle erreichten.

    „Davon bin ich überzeugt. Wir sollten ihn schützen. Ich könnte mir vorstellen, dass Gwang-jo ausrastet und ihm die Schuld an all den Dingen gibt. Wir müssen die Kontrolle behalten.“, stellte Thomas eindringlich fest und bewegte sich weiter in den großen Wohnraum, beziehungsweise die behaglich eingerichtete überdimensionale Bibliothek. Sie war ebenfalls nur in flackerndes Kerzenlicht getaucht und schloss sich direkt an den Speisesaal an. Im Kamin glimmte nur noch die letzte Glut vor sich hin.

    „Da hast du recht. Wenn wir zusammenhalten, dann kann uns nichts passieren.“, gab sich der Afrikaner optimistisch.

    „Hast du eigentlich irgendeine Veränderung im Schloss bemerkt?“, wollte Thomas wissen, dem einfiel, dass der seltsamen Direktor von gewissen neuen Maßnahmen gesprochen hatte.

    „Nein, bisher nicht. Oder vielleicht doch. Mir fällt auf, dass die meisten Räume nun in Kerzenlicht getaucht sind, jedenfalls im unteren Bereich.“, merkte der Ghanaer an und beendete das Gespräch, als die beiden den Speisesaal betraten.

    Wie zur Bestätigung ihrer Annahmen war auch dieser nur in Kerzenlicht erhellt. Die Gäste, die stumm und steif auf ihren Plätzen saßen, warfen große, flackernde und fratzenhafte Schatten. Am Ende des Tisches thronte düster und ganz in schwarz gekleidet der Direktor. Er trug einen kuttenähnlichen Umhang und wurde von seinem Butler eingerahmt, der steif neben ihm stand und mit gläsernem Blick auf die Tischplatte starrte.

    Thomas nahm wieder zwischen Paola Francesca Gallina, sowie Elaine Maria da Silva Platz. Die Brasilianerin hatte sich dunkel geschminkt und musterte Thomas mit fast stechender Aufmerksamkeit. Sie lachte rau und strich sich mit ihrer zierlichen Hand über ihre schwarzen, aber dennoch fast durchsichtigen Netzstrumpfhosen. Die religiöse Italienerin hatte die Geste bemerkt, rümpfte die Nase und blickte demonstrativ weg.

    Es lag eine unheimliche Spannung im Raum, die durch die Selbstinszenierung des Direktors nur noch gesteigert wurde. Langsam schob er seinen Stuhl nach hinten. Das quietschende, scharrende Geräusch ging den Gästen durch Mark und Bein. Langsam und gebrechlich erhob er sich, sein Gesicht war im Schatten der seltsamen Kutte verborgen. Alle Gäste starrten den Schlossherrn gebannt an.

    Er sprach allerdings noch nicht, sondern riss sich mit einer plötzlichen und heftigen Bewegung die düstere Kapuze aus dem Antlitz. Die Gäste erstarrten und murmelten verschreckt. Paola Francesca Gallina stieß einen spitzen Schrei aus und riss vor lauter Schreck einen Teil des Tischtuches von seinem angestammten Platz. Durch die heftige Bewegung fiel eine Blumenvase scheppernd zu Boden und zersprang in lauter kleine Teile.

    Dieser Lärm schien eine Art unsichtbares Startsignal gewesen zu sein. Tuschelnd sprachen die Gäste miteinander, doch niemand besaß den Mut aufzustehen oder zu fliehen. Alle Anwesenden wirkten wie gelähmt. In die allgemeine Verwirrung drang das bösartige, düstere Lachen des Schlossherrn, der sich an den Angstgefühlen der Gäste weidete.

    Doch er fixierte seine Gäste nicht wie sonst mit seinem stechenden Blick. Sein ganzes Gesicht hatte sich auf unheimliche Wese verändert und hatte auch den Anstoß zu der panischen Reaktion seiner Gäste gegeben.

    Sein Gesicht hatte nichts Menschliches mehr an sich. Es war mit blutigen Striemen verzerrt, als ob er sich mit einem Messer tiefe und blutige Schnitte zugefügt hätte. An seiner Stirn befand eine eitrige Beule. Seine Haare waren lang und verfilzt, seine Ohren waren spitz zugelaufen, während seine Nase nur noch durch einen animalischen Schlitz angedeutet waren.

    Thomas konnte seinen Augen kaum trauen. Er fühlte sich irritiert und fassungslos erschrocken. Er hatte das Gefühl im falschen Film zu sein. Erst die schrecklichen Morde und nun die dämonische Verwandlung des großen Tyrannen. Auch die anderen Gäste wirkten beunruhigt, lediglich Elaine Maria da Silva lachte neben ihm schrill auf und grub ihre langen, scharfen Fingernägel im Gefühl der Extase in die Schulter des erschrockenen Schotten. 

    Dann war der Spuk mit einem Mal vorbei!

    Der Schlossherr griff sich mit seinen normal gebliebenen Händen ins Gesicht, zerrte an seinem ekligen Haarschopf und entfernte die Maske aus seinem Gesicht. Lachend stülpte er sie sich über seinen Kopf hinweg und warf sie achtlos auf die Tischplatte. Sein normales, schweißgebadetes Gesicht war nun zu sehen. Ein triumphierendes Lächeln und ein irrer Blick wanderten durch das verschreckte Publikum.

    Der Direktor hatte sich nicht verwandelt, sondern lediglich verkleidet. Sein Gelächter wurde schallender, fast unerträglich laut, bevor es abrupt abbrach.

    Plötzlich herrschte eine nervöse, ungewisse Stille im Raum. Niemand wagte zu reden oder sich zu rühren. Langsam nahm der Schlossherr seine Maske wieder auf und steckte sie sich unter den Vorhang seiner düsteren Kutte.

    Er hob die Arme, breitete sie aus wie ein Priester oder Pfarrer und starrte seine Gäste feixend an, bevor er zu einer weiteren Rede ansetzte.

    „Ich dachte mir schon, dass dieser kleine Scherz die Stimmung wieder ein wenig lebendiger machen würde. Elaine Maria da Silva hat mich auf eine großartige Idee gebracht. Wie einfach man doch die Menschen manipulieren und erschrecken kann! Ihr lasst mich leiden, bringt euch gegenseitig um und zerstört mein Hab und Gut, doch jetzt sah ich euch leiden und das tat mir gut. Es baute meine geschundene Seele wieder auf. Lasst uns gemeinsam unsere Henkersmahlzeit halten! Vielleicht ist dieses Essen für einige von uns das letzte. Ich aber werde gewappnet sein und mich nicht überrumpeln lassen. Egal was ihr tut, ihr bekommt mich nicht. Lasst uns essen und morgen um elf Uhr, anstatt des Frühstücks allesamt in der Schlosskapelle eintreffen. Wir sollten alle zu Gott beten, wenn wir diese Nacht überstanden haben. Seid alle anwesend! Und nun lasst uns speisen!“, rief er theatralisch, hob sein blutrotes Weinglas an und setzte sich unter schallendem Gelächter.

    Die Gäste waren fassungslos angesichts dieser fanatischen Reaktion des Schlossherrn. Man hatte ihnen allesamt einen großen Schrecken eingejagt. Nur zögerlich aßen die Gäste das Abendessen, welches vom Koch wieder vorzüglich vorbereitet worden war. Lediglich Elaine Maria da Silva und der Schlossherr aßen ungewohnt viel. Thomas stocherte lustlos in seinem Hühnchenfleisch herum und rührte auch die Röstis nicht an, ebenso wenig wie die pikante Ananassoße. So schnell wie möglich aß er zu Ende, erhob sich dann von seinem Platz und verließ den Speisesaal als Erster. Einige andere Anwesenden, die sich nicht getraut hatten den ersten Schritt zu tun, folgten ihm und bald saßen nur noch der Schlossherr, Elaine Maria da Silva und Magdalena Osario, sowie ihr geliebter Björn Ansgar Lykström beisammen. Auch das Pärchen erhob sich rasch und wurde von einem schallenden Lachen des Direktors aus dem Raum hinausbegleitet, welches durch das ganze Schloss zu hören war.

    „Ein teuflisches Pärchen seid ihr! Die Hexe und der Magier, die gegen den bösen Schlossherrn eine blutige Verschwörung anzetteln wollen! Hoffen wir, dass ihr nicht kläglich scheitert in dieser fatalen Nacht!“, rief er aus und sah voller Genugtuung, wie die beiden Angesprochenen ohne Widerrede hastig aus dem Speisesaal flüchteten.

    Nun waren kaum noch Menschen im Speisesaal anwesend und der Direktor verfiel in einen düsteren Monolog.

    „Meine Autorität werde ich wiederherstellen. Egal um welchen Preis. Ich lasse nicht mit mir spielen. Verdammt seiet ihr alle! Verdammt sei dieses Schloss!“, schrie er und lachte infernalisch.

    Neben ihm blickte sich sein Butler ängstlich um. Nervös kaute er auf seinen Fingernägeln, fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durch das Haar und schüttelte missmutig den Kopf. Eine Gänsehaut hatte sich auf seinem Rücken gebildet. Er befürchtete, dass es eine unruhige Nacht werden würde.

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    Kapitel 42: Donnerstag, 21 Uhr 54, Zimmerflur


    Der Rest des Abends war verhältnismäßig ruhig und geordnet abgelaufen. Die meisten Gäste hatten sich auf ihre Zimmer zurückgezogen und versuchten sich abzulenken. Einige Gäste liehen sich Bücher aus der Bibliothek des merkwürdigen Schlossherrn aus, da sowohl die Radios, als auch die Fernseher im Schloss auf Grund des Gewitters oder anderweitiger technischer Probleme nicht zu funktionieren schienen.

    Thomas und Mamadou hatten es sich in einem Zimmer bequem gemacht uns spielten Karten. Mit den Gedanken waren sie jedoch bei den aktuellen Vorkommnissen, die ihnen nicht aus dem Kopf gehen wollten. So sehr sie auch überlegten, eine Antwort auf ihre Fragen fanden sie nicht, doch sie hatten beide das untrügliche Gefühl, dass die nächste Nacht neue und vielleicht unliebsame Erkenntnisse bringen könnte.

    Bald darauf verließ Thomas das Zimmer, da die Wachzeit bald begann. Als er auf den Zimmerflur trat, erkannte er bereits, dass Fatmir sich einen Stuhl nahe der Treppe zur Eingangshalle aufgestellt hatte. Der Albaner wirkte müde und fahrig. Als Thomas ihn ansprach, zuckte er erschrocken zusammen und fuhr herum. Schwer atmend schüttelte er den Kopf und ließ sich wieder auf den Stuhl niedersinken.

    „Mein Gott, du hast mich ganz schön erschrocken.“, stammelte der ehemalige gute Freund des Schotten, der ein ungutes Gefühl hatte.

    „Fatmir, du wirkst völlig ausgelaugt auf mich. Wir werden deinen Wachposten durch eine andere Person ersetzen.“, schlug Thomas zielstrebig vor und sah die abwehrende Geste des Albaners, der künstlich lächelte.

    „Nein, keine Bange. Mir geht es gut und ich kann auf mich aufpassen.“, gab er zurück. Er überzeugte Thomas nicht wirklich, aber dieser zuckte resigniert mit den Schultern.

    „Du musst es wissen.“, gab er nachdenklich zurück und wandte sich um, als er plötzlich Schritte unmittelbar hinter sich hörte.

    Vor ihm stand Elaine Maria da Silva, die stark geschminkt war und unnatürlich bleich wirkten. Ihre dunklen Augen funkelten geheimnisvoll und ein exotischer Duft umgab die mysteriöse Brasilianerin. Sie lächelte sanft und legte ihre Hand auf Thomas Schulter.

    „Auch ich bin bereit. Was immer uns auch erwartet, ich werde stark bleiben. Mich kriegt dieser Verrückte nicht.“, sagte sie energisch und ihr Lächeln hatte mit einem Mal einer grimmig verzerrten Fratze Platz gemacht, doch nach wenigen Sekunden hatte die Brasilianerin ihren Gefühlsausbruch wieder Kontrolle, blickte ihr Gegenüber tiefgründig an und wandte sich theatralisch zur Seite, als sie in den Trakt der weiblichen Schlossbewohner marschierte.

    Thomas blickte der Brasilianerin nachdenklich hinterher und bewegte sich seinerseits in Richtung des anderen Traktes, wo er sich einen Stuhl hingestellt hatte. Dieser befand sich am Ende des Ganges, unmittelbar vor einem Fenster aus verzierten Glasscheiben, durch die er sehr verschwommen die äußeren Ausläufer der Insel und des Meeres erahnen konnte. Ein greller Blitz durchzuckte die Nacht und blendete den Schotten, sodass er seine Augen mit der Handfläche abschirmen musste. Der Wind pfiff draußen vorbei und erzeugte zeitweilig einen höllischen Lärm. Irgendwo musste es einen kleinen Spalt im unteren Bereich der Scheibe geben, denn von dort kamen dieser Lärm und auch eine geringfügige Kälte.

    Thomas setzte sich nieder und lauschte dem Brausen der aufgeschäumten Brandung. Er ließ die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren und stellte mit großer Ernüchterung fest, dass es vielleicht der bitterste Tag seines Lebens gewesen war. Der Tod seines ehemaligen Schulkameraden und die damals folgende Isolation hatten ihn abgehärtet und nur so hatte er den schmerzhaften Tod seiner französischen Geliebten und des türkischen Museumsdirektors überhaupt ertragen können. Manchmal glaubte Thomas, dass dies nur ein Traum war, so betäubt wie er sich fühlte. Die Lage war schier ausweglos. Die gesamte Gruppe saß unabänderlich auf der Insel fest und war den Launen eines bestialischen, aber geschickt vorgehenden Killers ausgesetzt. Thomas glaubte daran, dass die Gruppe nur durch ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt diese prekäre Situation überstehen konnte, aber stattdessen beschuldigten und zerfleischten sich alle Anwesenden gegenseitig. Aus manchen Anwesenden wurde Thomas trotz seiner guten Menschenkenntnisse und seiner präzisen Beobachtungsgabe dennoch nicht schlau.

    Ein plötzliches krachendes Geräusch ließ Thomas hochfahren. Ein greller Blitz hatte die Scheiben erhellt, gegen die mit unglaublicher Wucht ein Wesen angeflogen war. Das orientierungslose Wesen hatte dem Hindernis nicht mehr ausweichen können und glitt wie in Zeitlupe die Scheibe hinunter und fiel in die Tiefe, wobei es eine schleimige Blutspur hinterließ. Der Herzschlag des Schotten raste, obwohl er sich bewusst wurde, dass es sich nur um einen Vogel gehandelt hatte.

    Ächzend ließ er sich zurück in den Stuhl fallen. Dabei warf er einen zufälligen Blick auf seine Armbanduhr, eine originale Uhr des Komitees für Staatssicherheit, besser bekannt als der sowjetische Geheimdienst unter der Abkürzung KGB, die er einst von einem russischen Freund geschenkt bekommen hatte. Sofort begann Thomas Puls wieder zu rasen, als er realisierte, wie spät es geworden war. Er musste in seinen Gedankengängen vor dem Fenster durch das monotone Rauschen des Meeres und Prasseln des Regens kurz eingenickt sein und hatte fast anderthalb Stunden verpasst. Eine ausreichend große Zeitspanne für einen weiteren potentiellen, tödlichen Anschlag.

    Entsetzt fuhr Thomas Jason Smith aus seinem Stuhl hoch und eilte zur Treppe hin. Dort traf ihn der nächste Schock. Weder Fatmir, noch Elaine Maria da Silva waren irgendwo zu sehen. In der Eingangshalle war es unheimlich düster geworden, die wenigen erhellten Kerzen waren bereits fast verbraucht und sollten dringend ausgetauscht werden. Im Schloss herrschte eine düstere Totenstille, die nur hin und wieder durch das finstere Grollen von draußen unterbrochen wurden, wo die Welt unterzugehen schien.

    Thomas dachte kurz über seine Möglichkeiten nach. Er spielte mit dem Gedanken seinen Kollegen Mamadou zu wecken, verwarf diesen aber gleich wieder. Er durfte sich nicht klein kriegen lassen und sollte Stärke zeigen. Er musste sich selbst beweisen, zu was er wirklich fähig war und so sein Selbstbewusstsein wieder stärken. Er wollte die anderen Anwesenden auch nicht durch einen unangebrachten Hilferuf in Panik versetzen. Vielleicht würden die beiden anderen Aufpasser ja schon bald wieder auftauchen. Möglicherweise vertraten sie sich kurz die Beine oder waren auf Toilette gefangen. Thomas versuchte sich mit solchen fadenscheinigen Begründungen zu beruhigen und merkte bereits, dass ihm dies deutlich misslang. Steckte mehr hinter dem Verschwinden?

    Der nervöse Polizist gab sich fünf Minuten Wartezeit. Die Sekunden schienen endlos langsam zu vergehen. Ein Wetterleuchten erhellte die Treppe und Teile der Eingangshalle in ein diffuses Licht. Eine Löwenstatue am Ende des Treppenaufgangs wirkte mit einem Mal wie lebendig und die silbernen Augen des abstrusen Kunstwerkes schienen Thomas warnend und grausam anzufunkeln. Der Schotte bekam eine Gänsehaut, die durch das plötzliche Ertönen eines aggressiven Donners nur noch verstärkt wurde. Unruhig marschierte er hin und her und sah bald, dass seine selbst aufgestellten fünf Minuten Wartezeit nun längst verstrichen waren.

    Thomas machte sich allmählich Sorgen. Nervös zündete er sich die letzte Zigarette aus seiner Packung an und brauchte dafür mehrere Anläufe. Erschrocken zuckte er zusammen, als er sich am glühend heißen Feuerzeug verbrannte. Schließlich nahm er einen tiefen Zug und verstaute die zerknüllte Packung in seiner Hosentasche. Fahrig zitternd blies er den blauen Dunst in die Eingangshalle und atmete tief durch. Er schloss für einige Augenblicke die Augen und schickte ein rasches Stoßgebet gen Himmel. Danach drückte er seine Zigarette bereits am Geländer aus, ließ den Stängel achtlos zu Boden gleiten und gab sich einen letzten und entscheidenden Ruck.

    Mit einem unguten Gefühl im Magen eilte er die Treppe hinunter in die Eingangshalle, wandte sich bereits dem weiteren Durchgang in Richtung der Bibliothek zu, als ihn ein surrendes Geräusch überrascht innehalten ließ.

    Verschreckt zuckte der Schotte zurück und sah sich nervös um, doch es war niemand außer ihm anwesend. Nachdenklich warf er einen Blick in die Runde. Woher war dieses undefinierbare Geräusch dann hergekommen?

    Thomas Jason Smith wollte sich schon ergebnislos und resigniert abwenden, als er aus seinem Augenwinkel im letzten Moment die entscheidende Entdeckung machte, die ihn überrascht aufschreien und zugleich frösteln ließ.

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