• Vitali Sergejewitsch Aljenikow hielt seinen kleinen, hölzernen Koffer nervös fest, während er sich gleichzeitig prüfend im Rückspiegel des altersschwachen Ladas seines Freundes Sergej betrachtete. Forsch rieb er sich mit seiner linken Hand am Kinn, während sein Kumpel sich dem Ziel näherte und zum letzten Mal nach rechts abbog. Aus den hallenden und krachenden Lautsprechern erklang das letzte Lied des letzten Albums von Aria, während Vitali nur an die schöne Französin und seine prachtvolle Wohnung dachte.

    Er wurde grob aus seinen Tagträumen gerissen, als Sergej trocken abbremste, da er fast in eine Absperrung hineingefahren wäre. Der dort stehende Polizist wich erschrocken zurück und wedelte fluchend mit den Händen. Sergej atmete tief durch und wollte seinen alten Wagen wenden, doch Vitali hatte eine andere Idee.

    „Sergej, lass uns einfach am Straßenrand anhalten, ich möchte wissen, was hier los ist.“, bat Vitali seinen Kollegen, der zerknirscht nickte und nicht widersprach.

    Langsam stellte Sergej seinen alten Lada ab und trat gemächlich aus seinem Wagen, während Vitali förmlich aus der alten Rostlaube sprang und eilig auf den Polizisten zutrat. Seine Neugierde war geweckt. Er witterte sofort eine große Story für einen nächsten Artikel. Für ihn war es wichtig sich gerade in seiner Anfangszeit in Sankt Petersburg durch gut recherchierte Artikel zu beweisen, um eine der seltenen Festanstellungen zu bekommen.

    „Sehr geehrter Herr Polizist, können Sie mir vielleicht sagen, was hier passiert ist?“, fragte Vitali, der ein wenig gehetzt wirkte und plötzlich Angst hatte, dass der schönen Französin oder seiner Gastwirtin etwas passiert war.

    „Tut mir Leid, ich darf keine Auskünfte geben.“, erwiderte der Polizist stur, doch Vitali war lange genug im journalistischen Geschäft gewesen, um zu wissen, dass er noch weitere gute Argumente in petto hatte.

    Lässig nestelte er in seiner Hosentasche und kramte einige Rubelscheine daraus hervor, die er dem Polizisten mit einem Augenzwinkern zusteckte. Letzterer trat langsam vor und blickte sich noch kurz um. Als er sich unbeobachtet fühlte, atmete er tief durch und bewegte seinen Kopf vertraulich flüsternd in Richtung seines Gegenübers, während er mit seinen glitschigen Händen gierig nach den Geldscheinen griff.

    „Vier Tote hat es gegeben, auf bestialische Weise verstümmelt. Drei mutmaßliche Handlanger des Unterweltbosses Matschiwjenko sind grausam ermordet worden, ebenso wie ein Handlanger, der zu der konkurrierenden kriminellen Formation dieses Sektors gehörte. Wir konnten ihn nur dank seiner Tätowierung am Unterarm identifizieren, denn der Rest war völlig verstümmelt und blutig.“, berichtete der Polizist ausführlich und blickte sich gehetzt nach einem Vorgesetzten um.

    „Es könnte also sein, dass der dritte Unterweltboss, die sogenannte stählerne Maske, dahintersteckt.“, mutmaßte Vitali, der in den ersten zwei Wochen seines Aufenthalts schon jede Menge über die kriminellen Banden gehört hatte, laut, doch der Polizist widersprach ihm energisch flüsternd und machte einen sehr ernsten Eindruck.

    „Ich habe bereits viele Bandenkriege in meiner nun schon fünfundzwanzigjährigen Berufskarriere erlebt, aber eine solche Hinrichtung ist absolut unvorstellbar.“, erwähnte der Polizist erregt.

    „Wer könnte denn dahinter stecken?“, fragte Vitali ein wenig entnervt, denn er spürte, dass er hier tatsächlich eine Inspiration für einen neuen Artikel gefunden haben könnte und nun ausreichend Blut geleckt hatte.

    „Das weiß nur der liebe Gott. Möglicherweise nicht einmal mehr er, sondern nur der Teufel.“, erwiderte der Polizist düster und bekreuzigte sich hastig, bevor er sich abwandte, als zwei Kollegen aus einem Haus traten, in dem sie einige Anwohner befragt zu haben schienen. Der Fund der Leichen schien den doch erfahren wirkenden älteren Mann ziemlich heftig mitgenommen zu haben.

    Vitali entschloss sich entgegen der Meinung seines unbehaglich reagierenden Partners Sergej die Polizeisperre einfach zu ignorieren und betrat lässig die abgegrenzte Zone, wobei er dem zunächst empört protestierenden Polizisten rasch einen weiteren Rubelschein zukommen ließ, bevor dieser sich erneut erbosen konnte.

    Gemeinsam näherten sich Vitali und Sergej im Eilschritt dem Gebäude, in welchem Vitali eigentlich heute morgen hatte einziehen sollen. All diese Formalitäten waren für ihn nun vergessen, er witterte eine große Story und war bereit alles dafür zu geben.

    In diesem Moment kamen zwei Polizisten aus einer düsteren Seitengasse, in der viel Abfall herumlag. Sie trugen eine klapprige Bahre, auf der die Überreste eines Körpers verteilt lagen. Obwohl diese mit einer weißen Plane überdeckt worden war, konnte Vitali erkennen, dass das Opfer von einer unmenschlichen Kraft völlig zerfetzt worden war.

    Die beiden Polizisten waren noch ganz grün im Gesicht und blickten angespannt in die Luft, um jeglichen Blickkontakt mit dem Todesopfer zu vermeiden. Hektisch stolpernd steuerten sie auf einen Krankenwagen zu, in dessen Hinterraum bereits drei ähnliche Bahren lagen. Ein älterer Arzt mit Schnauzbart hatte sich eine stinkende Pfeife angezündet und blickte kopfschüttelnd in den grauen Rauch. Entgegen der sonstigen lauten Geschäftigkeit von Polizisten und Ärzten an einem Tatort herrschte hier eine eisige Stille, die auch den empfindlichen Vitali sofort bedrückte, während Sergej sogar schaudernd stehen geblieben war und sich keinen Schritt mehr weiter wagte.

    „Hast du so etwas hier schon einmal erlebt?“, fragte Vitali seinen Begleiter atemlos.

    „Nein, in all der Zeit nicht. Selbst in Moskau hat es solche Morde niemals gegeben. Das kann eigentlich nur die Tat eines Wahnsinnigen sein.“, bemerkte Sergej stockend.

    „Scheinbar aber ein Wahnsinniger mit klarem Motiv, denn alle vier Opfer gehörten kriminellen Organisationen an.“, murmelte Vitali mehr zu sich selbst als zu seinem Partner und blickte erst jetzt auf den Eingang des gepflegten Hauses, in dem er ab heute hausen sollte.

    Die Gasse, aus der die Toten transportiert worden waren, lag nur drei Häuser neben der jetzt seltsam grau und trist wirkenden Fassade. Zu allem Überfluss setzte jetzt noch ein kalter, feiner Nieselregen ein, der Vitali in wenigen Sekunden bis auf die Haut durchnässt hatte. Immerhin brachte das Wetter die stummen und schreckensstarren Polizisten wieder zum Fluchen. Die unnatürliche, morbide Atmosphäre löste sich langsam auf.

    Die stämmige Ekaterina Alexandrowna Kolodina stand mit einer bunten Kochschürze in ihrem Hauseingang und hatte ihre geballte Faust vor ihren vor lauter Schreck weit geöffneten Mund gedrückt. Ihre sonst so freundlichen und lebendigen Augen wirkten jetzt starr und weit.

    Nach einigem Zögern setzte sich Vitali wieder in Bewegung und passierte dabei auch die dunkle, schmutzige Gasse, die sofort in andere mündete und in ein verwinkeltes Labyrinth überging. Eine der Seitengassen war weiträumig abgesperrt worden. Zwei jüngere Polizisten traten jetzt auf die Hauptstraße und unterhielten sich nervös über den Fall. Vitali näherte sich wie zufällig den Polizisten, ging dicht hinter ihnen her und hatte seinen Schritt ein wenig beschleunigt. Sein Freund Sergej hielt sich hingegen zurück und trat stattdessen auf direktem Wege zu der geschockten Ekaterina, ohne zuvor einen Blick in die unheilvollen Gassen geworfen zu haben.

    „Dieser Täter muss von oben auf ihn gestürzt sein. Stell dir das vor, die umliegenden Häuser sind alle mindestens fünf bis sechs Meter hoch. Ein normaler Mensch würde sich doch alle Knochen im Leib brechen“, flüsterte der erste Polizist, ein kleinwüchsiger Blondschopf mit Brille, erregt und erwartete eine Reaktion seines Kollegen.

    „Da sagst du was. Der Kerl muss die Region wie seine Westentasche kennen. Er kennt alle Hinterhalte, Schlupflöcher und konnte immer rücklings angreifen und fliehen und das bei der Anzahl an Gaunern unten am Ufer, das ist unfassbar.“, gab der stämmige zweite Kollege zu, der sehr muskelbepackt war und doch seltsam kraftlos und eingeschüchtert wirkte.

    „So etwas kann doch nicht von Menschenhand verübt worden sein, das ist doch Wahnsinn!“, ereiferte sich sein Kollege ein wenig lauter, wurde sich seines Fehlers bewusst, wandte sich betroffen um und erblickte gleichsam überrascht wie feindselig den lächelnden Vitali, der instinktiv seine Laufrichtung abgeändert hatte und nun ebenfalls auf seine neue Wohnung zusteuerte.

    Nervös wandte sich der kleine Polizist wieder um und setzte das Gespräch mit seinem Kollegen gedämpft fort. Vitali verstand nicht einmal mehr Wortfetzen und trat nachdenklich zu Sergej und Ekaterina, die inzwischen beisammen standen. Vitali grüßte seine Vermieterin leise und mit gesenktem Haupt und die herzliche Russin blickte ihn mit Tränen in den Augen langsam an.

    „Mein Gott, das ist so schrecklich. Wenn ich bedenke, dass das Ganze nur ein paar hundert Meter von meinem Haus passiert ist.“, begann sie mit stockender Stimme, ließ den Satz aber unvollendet und erschauderte.

    „Lassen Sie uns am besten hineingehen. Es hat doch kaum Sinn den Polizisten bei dieser morbiden Arbeit noch weiter zuzusehen. Ein wenig Abwechslung wird uns allen gut tun.“, bemerkte Sergej just in dem Moment, als sich ein älterer Polizist mit langen grauen Haaren dem Trio näherte und eine flache Kappe von seinem Kopf nahm.

    Energisch trat er auf sie zu und verbeugte sich leicht vor ihnen, bevor er direkt, aber stets höflich zur Sache kam.

    „Entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Igor Semjonowitsch Matafeev. Ich bin Oberkommissar in diesem Stadtteil und leite die vorläufigen Ermittlungen zu diesem schrecklichen Fall. Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“, fragte er freundlich und mit einfühlsamer Stimme.

    „Ach, Herr Oberkommissar, das ist alles so furchtbar, was hier passiert ist. Es ist ja schon seit einiger Zeit ziemlich unruhig und bedrohlich hier und endlich war mal für einige Monate Ruhe und nun direkt so etwas.“, plauderte die immer noch entsetzte Ekaterina, die in ihrer Hektik ganz vergessen hatte sich vorzustellen und dies nun mit hochrotem Kopf eifrig nachholte, wobei sie Sergej und Vitali gleich mit präsentierte. Der Oberkommissar schüttelte mit einem feinen Lächeln fest ihre Hände und blieb danach wieder wie angewurzelt diszipliniert stehen.

    „Nun, mit dem Frieden wird es wohl jetzt leider vorbei sein, da bin ich ganz ehrlich. In den letzten Monaten haben die rivalisierenden Banden sich weitestgehend in Ruhe gelassen. Sie haben teilweise sogar Bündnisse abgeschlossen, Tauschgeschäfte gemacht, wie wir aus Insiderquellen wissen. Gerade deswegen ist ein solches Massaker für uns völlig unverständlich. Jetzt suchen wir natürlich nach dem oder den Tätern und möglichen Motiven. Ich würde von Ihnen gerne wissen, wo sie gestern Abend so zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens gewesen sind und ob sie irgendetwas Verdächtiges gehört oder gesehen haben.“, informierte sich Matafeev mit besonnener Stimme.

    „Also, die beiden Herren neben mir waren gestern gar nicht in der Gegend. Jedenfalls waren sie es nicht um diese Uhrzeit. Herr Aljenikow hat gestern ein Zimmer bei mir gemietet und ist mit seinem Freund am frühen Abend vorbeigekommen. Kurz danach sind die beiden auch schon wieder gegangen. Ach, ist das schrecklich für Sie, Herr Aljenikow, dass Sie gleich zu Beginn Ihres Aufenthalts hier solch ein schreckliches Verbrechen miterleben müssen. Aber glauben Sie mir, in meinem Haus sind Sie absolut sicher, wir sind in all den Jahren noch nie angegriffen worden, keinem meiner Untermieter ist je etwas zugestoßen. Es bleibt doch bei Ihrer Entscheidung, dass Sie das Zimmer nehmen, oder etwa nicht?“, fragte die eifrige Ekaterina mit ängstlichem Unterton und obwohl Vitali gerade erst selbst diese Frage durch den Kopf geschossen war, nickte er beruhigend und versuchte ein zaghaftes Lächeln, um die Vermieterin rasch zu beruhigen.

    „Selbstverständlich, ich hatte Ihnen ja mein Wort gegeben.“, antwortete er und schluckte einen Kloß in seinem Hals herunter. Bei seiner Entscheidungsbestätigung hatte er auch an die hübsche Französin gedacht und fragte sich ängstlich, ob die junge Dame wohl in Sicherheit war.

    „Frau Kolodina, haben Sie selbst denn irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt?“, wollte Matafeev wissen und blieb trotz des unkontrollierten Redeschwalls der rustikalen Dame völlig ruhig und geduldig.

    „Nein, Herr Oberkommissar. Ich bin wie üblich um elf Uhr abends schlafen gegangen, nachdem ich zuvor noch den Fernseher an hatte und dabei gehäkelt und einen ganzen Samowar noch geleert hatte. Ich kann nachts nie gut schlafen und höre normalerweise das kleinste Geräusch. Aber in der Nacht gab es nichts außer das Bellen einiger Hunde. Zwei meiner Untermieter, Madame Lavoie aus Frankreich und der junge Pawel Edmundowitsch Gluschenko, sind noch am späten Abend nach Hause gekommen.“, berichtete Ekaterina eifrig und wurde erst jetzt vom interessiert zuhörenden Oberkommissar unterbrochen.

    „Wer sind denn Ihre Untermieter und wie viele haben sie?“, wollte Matafeev wissen.

    „Nun, einmal eben Herr Aljenikow, den ich ihnen ja bereits vorgestellt habe. Er ist Journalist und kommt aus Moskau. Er wohnt im oberen Stockwerk mit Madame Lavoie aus Frankreich, sie studiert hier die Schauspielkunst für ein volles Semester und wohnt seit wenigen Wochen bei mir. Im ersten Stockwerk wohnt dann noch Lew Dawidowitsch Kalchanow, er ist Frührentner und lebt recht zurückgezogen. Früher hat er in Ostdeutschland gearbeitet, als Botschafter für die kommunistische Volkspartei. Sein Nachbar ist Pawel Edmundowitsch Gluschenko, er arbeitet am Hafen, kümmert sich um das Löschen der Frachten und ähnliche Dinge.“, berichtete Ekaterina auskunftsfreudig.

    „Nun, diese Madame Lavoie und Herrn Gluschenko würde ich gerne mal sprechen.“, bat Malafeev freundlich, doch Ekaterina schüttelte bedauernd den Kopf, da beide Personen schon ihre Wohnungen verlassen hatten. Der Oberkommissar stellte dankend fest, dass er somit zu einem späteren Augenblick noch einmal vorbeischauen würde und verabschiedete sich geschäftig, aber äußerst herzlich von dem aufgewühlten Trio.

    Endlich konnten die drei Befragten in das Haus einkehren und machten sich ungewöhnlich stumm und bedrückt auf den in die Wohnung der Vermieterin, die trotz der Zwischenfälle bereits ein herzhaftes Frühstück zubereitet hatte. Es gab frische Blinies ebenso wie einige großzügig gezuckerte Pfannkuchen, dazu gab es heißen und frischen Früchtetee und trockenes Weißbrot.

    Nach einigen Minuten des stillen Schweigens lockerte sich die Atmosphäre ein wenig, als Vitali seine Gastgeberin nach den letzten Untermietern fragte und Ekaterina freudig einige Anekdoten preisgab und zudem von ihrem verstorbenen Mann sprach, der vor einigen Jahren an Krebs gestorben war und von dem noch viele Fotos in den kleinen Zimmern standen. Voller Stolz berichtete Ekaterina auch von ihren beiden Söhnen, von denen es einen in einen anderen Außenbezirk von Sankt Petersburg, den anderen ins Ferne Wladiwostok verschlagen hatte. Beide hatten sich selbstständig gemacht.

    Nach etwa einer halben Stunde verabschiedete sich Sergej dann vielfach dankend von Ekaterina und seinem Freund Vitali und fuhr zu seiner Redaktion. Die Polizeisperren waren inzwischen gelockert worden und Sergej konnte problemlos die Straßen passieren und in seinem klapprigen Lada davonstottern, nachdem er mit Vitali dessen Wertsachen in die Wohnung transportiert hatte.

    Vitali hatte sich für diesen Tag frei genommen und machte sich nach dem Frühstück, wobei die wieder muntern plaudernde Ekaterina ihn zunächst gar nicht erst gehen lassen wollte, an die Arbeit in seinem Zimmer seine Habseligkeiten vernünftig anzuordnen und ein wenig aufzuräumen. Dabei hatte er als gläubiger christ einige Marienfiguren dabei, eine Bibel, ansonsten viel Kleidung, einige Haushaltsutensilien, Fotos seiner Eltern und seiner Schwester, die allesamt noch in Moskau lebten, sowie ein eigenes Radio, einige Schmuckstücke und viele Bücher. Sogar eine altmodische Schreibmaschine hatte er mitgenommen, für die Fälle, falls ihm abends in seiner Wohnung ein guter Artikel einfallen sollte. Vitali fühlte sich trotz allem seltsam euphorisiert, weil er endlich eigenständig wohnte und sich nun seine eigene Existenz aufbauen würde. In dieser Aufbruchstimmung vergaß er fast schon den Zwischenfall vom frühen Morgen und blickte gedankenverloren durch sein Fenster auf die Hauptstraße, die inzwischen gar von zaghaften Sonnenstrahlen erhellt worden war, die ihrerseits den Kampf gegen die sparsam gesäten schmutziggrauen Schneereste an den Straßenrändern aufnahmen.

     

    Nervös betrat Wladimir Alexandrowitsch Semak das nasskalte Gewölbe der Kanalisation nahe des Obvodny-Kanals im Distrikt Ligovka-Yamskaya durch eine alte schmiedeeiserne Tür, die geräuschvoll hinter ihm ins Schloss fiel.

    Nur zwei billige Ölfunzeln erhellten den isoliert gelegenen Raum, in dem bereits zwei Männer an einem einfachen Holztisch in der Mitte saßen. Abgesehen von ihnen, einigen Stühlen und zwei alten Garderoben, in denen verschiedenste Utensilien versteckt lagen, war der Raum völlig leer. Selbst auf Wachposten oder Türsteher, welche die Tätowierungen der Mitglieder der stählernen Maske normalerweise überprüften, hatte man heute verzichtet, denn es war höchste Eile geboten.

    Rasch nahm Semak auf einem der klapprigen Holzstühle Platz. Er hatte einen Aktenkoffer mitgebracht, den er nun rasch öffnete. In ihm befanden sich einige weiße Blätter, sowie ein edler Füllfederhalter.

    „Sie kommen recht spät, Genosse Semak.“, bemerkte einer der beiden Männer, der zu Semaks Linken saß und diesen aufmerksam aus kaltblauen Augen musterte.

    Semak hatte an der Kopfseite des Tisches Platz genommen und blickte den Sprecher an. Er hatte ein ziemlich pockenartig vernarbtes Gesicht, das im Halbdunkel des Gewölbes unheimlich aussah. Der Mann war für seine grausame Kaltblütigkeit bekannt und hatte die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht. Jeder hatte enormen Respekt vor ihm, angeblich sogar der Boss, der sich allerdings immer im Hintergrund hielt. Man sagte immer, dass der pockennarbige Josef Iljitsch Lukianenko eine von sozusagen zwei rechten Händen der stählernen Maske war. In der Gruppierung nannte man ihn sogar hinter hervorgehaltener Hand spöttisch die „linke Hand“ des Bosses, da Lukianenko in den frühen Neunzigern vielfach linksextremistisch gesinnte Anschläge auf hochrangige Geschäftsmänner und Politiker verübt hatte.

    Ihm gegenüber saß Dmitry Fjodorowitsch Plichanow, der mit seinen streng gescheitelten und gegelten Haaren und seinen maßgeschneiderten Anzügen das komplette Gegenteil von Lukianenko war. Er war eben die andere rechte Hand und übernahm meist die geschäftlichen Aspekte der Organisation, die sich einfach nach ihrem Boss als „stählerne Maske“ bezeichnete.

    Semak war hingegen einer der wichtigsten Kuriere und Botschafter in der noch jungen Organisation und verhältnismäßig kleinen Hierarchie. Er hielt mit Vertretern von konkurrierenden Banden Kontakt, aber auch mit hochrangigen Politikern und Vertretern der Polizei und des Geheimdienstes. Semak war einst wegen eines Putsches von seinem Ministerposten in Kolpino gestürzt worden und seitdem in kriminellen Bereichen recht erfolgreich tätig.

    Doch dem erfahrenen Mann schlotterten an diesem späten Vormittag die Knie und er brachte mit zitternden Hand einige wirre Wörter zu Papier. Verärgert zerknüllte er das Papier und nahm eine neue Seite. Die Berichte vom frühen Morgen bezüglich der grausigen Morde in der Hafengegend hatten ihn sehr aufgeschreckt und aus diesem Grund fand auch dieses improvisierte Treffen statt.

    „Verzeihen Sie, Genosse Lukianenko, ich hatte noch eine Unterredung mit einem unserer Waffenlieferanten. Seit heute Morgen ist in unseren Zentralen die Hölle los. Alle Leute sind in Alarmbereitschaft. Jeder will wissen, ob wir hinter den Taten stecken. Unser Autohändler ließ sogar durchklingen, dass er seinen Vertrag mit uns fristlos kündigen möchte. Ihm wird die Sache zu heiß. Mit solch brutalen Morden will er nichts mehr zu tun haben.“; erwiderte Semak hektisch und unkonzentriert.

    „Niemand verrät unsere Organisation. Wer ohne Bewilligung des Bosses aussteigt, muss sterben.“, bemerkte Lukianenko kalt und ohne den Hauch einer Regung.

    Semak erschauderte, denn er kannte sein Gegenüber lang genug um zu wissen, dass dieser Mann seinen Worten stets Taten folgen ließ. Ein Menschenleben war für Lukianenko wenig wert. Für ein bisschen Ruhm, Anerkennung, Wodka und einige Rubel würde er jeden Auftrag erledigen und gewissenlos jeden Gegner professionell ermorden lassen. Lukianenko war ein brillanter Taktiker und Stratege und zudem ein Organisationstalent.

    „Diese Anschläge werden unseren Geschäften mit Sicherheit wenig gut tun. Man wird Vergeltungsanschläge planen und die Polizei wird uns auch das Leben schwer machen. Wir sollten von daher möglichst diplomatisch agieren und ein erklärendes Schreiben an die Bosse der anderen Organisationen, sowie an die Polizei und den Geheimdienst aufsetzen, um die Lage sofort klarzustellen. Ein Missverständnis würde zu einem blutigen Bandenkrieg führen, den sich niemand von uns leisten möchte.“, erklärte Plichanow und nickte dem nervösen Semak auffordernd und ein wenig hochnäsig zu.

    „Vor einem Konflikt hätte ich keine Angst. Wir sind gut gerüstet. Man würde sich an uns die Zähne ausbeißen.“, warf Lukianenko kalt ein und bei dieser Vorstellung blitzten seine kalten Augen fanatisch auf. 

    „Das ist erfreulich, Genosse Lukianenko, aber wir sollten es nicht darauf ankommen lassen.“, gab Plichanow mit leicht höhnischer Stimme zurück. Er war eine der wenigen Personen, die vor Lukianenko keine Angst und auch nur wenig Respekt hatten.

    Zerknirscht schwieg der Brutale und blickte seine beiden Mitstreiter finster an. Er gab sich nun ziemlich barsch und ungehalten, was allerdings ein relativ gutes Zeichen war. Denn es wurde nur gefährlich, wenn Lukianenko schwieg, mit seinem Gesprächspartnern gar nicht mehr kommunizierte und sich seine perversen Fantasien in der Tiefe seines Blickes zu spiegeln schienen. Jetzt war er lediglich ein wenig gekränkt.

    „Nun gut, wie ich unseren Boss kenne, wird er ähnlicher Meinung sein. Aber wir sollten das Schwein finden, dass hinter der Sache steckt und uns ganz offensichtlich etwas anlasten will!“, begehrte Lukianenko grimmig auf.

    „Die Polizei und die anderen Banden werden auch hinter dem Kerl her sein.“, warf Semak leise ein.

    „Umso wichtiger ist es, dass wir diesen Bastard zuerst in die Finger bekommen und ihm einen besonders qualvollen Tod ermöglichen.“, flüsterte Lukianenko grimmig und lachte heiser.

    „Die Frage ist nur, wer ein Motiv für solch eine Tat haben könnte. Vielleicht ein ehemaliges Mitglied unserer Organisation, das sich für seinen Rauswurf rächen möchte. Möglicherweise ein brutaler Bürger, der Selbstjustiz üben und alle kriminellen Organisationen der Stadt ausschalten möchte. Vielleicht aber auch eine Art vierte Kraft, die sich ihren eigenen Machtbereich aufbauen möchte.“, gab Plichanow einige Möglichkeiten vor.

    „Die Liste der von uns verstoßenen ehemaligen Mitarbeiter können wir relativ leicht herausfinden.“, warf Semak hektisch ein.

    „Besorgt mir die Liste, ich kümmere mich um die Befragung der potenziellen Täter.“, lachte Lukianenko grimmig und knackte geräuschvoll mit seinen Händen, sodass Semak eine frostige Gänsehaut bekam.

    „Ich hätte noch einen Vorschlag. Wir alarmieren unseren Kontaktmann aus der Hafengegend. Er ist zwar nur ein einfacher Mitarbeiter, könnte sich allerdings nun als nützlich erweisen, da die Tatorte direkt bei ihm um die Ecke liegen. Er könnte sich umhören und umschauen und verdeckt agieren.“, warf Semak nach einigen Sekunden des frostigen Schweigens ein.  

    Lukianenko schnaubte verächtlich, während Plichanow unentschlossen den Kopf von einer Seite zur anderen wog. Beide schienen dem Kontaktmann nur wenig zuzutrauen.

    „Schaden kann es ja im Moment nicht.“, warf Plichanow arg zögerlich ein.

    „Wir sollten alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen. Die Zeichen stehen auf Sturm.“, meinte Semak mahnend und hoffte die beiden Zweifler noch von seiner Idee zu überzeugen.

    „Dieser Kerl ist ein Nichtsnutz. Er war es schon immer und wird es auch immer bleiben. Er ist zwar nur ein Schläfer, aber man hätte ihm seit dem Debakel und seinem Verrat vor zwei Jahren die Zunge aus seinem dreckigen Maul herausschneiden sollen!“, begehrte Lukianenko grimmig auf.

    Er spielte damit auf einen gescheiterten Hinterhalt in der Hafengegend an, bei dem der Kontaktmann sich versehentlich versprochen und den Gegner somit misstrauisch gemacht hatte. Die Piraten vom finnisches Meerbusen hatten den Hinterhalt somit im letzten Moment erkannt, die Sache war aufgeflogen und es hatte eine wilde Schießerei gegeben. Zwar wurde niemand dabei getötet, die Beute und die potenziellen Opfer waren jedoch entkommen. Das jedenfalls war die offizielle Version des Falles. Nur Lukianenko und wenige Eingeweihte wussten, dass der Kontaktmann damals mehrfach falsch gespielt hatte und sogar eine Art Revolte gegen die stählerne maske geplant zu haben schien. Zwei seiner engsten Mitsreiter hatten dann jedoch die Seite gewechselt und den Kontaktmann auffliegen lassen. Um einen weitläufigen Skandal zu vermeiden, hatte man es so aussehen lassen, als hätte der Mann einen wichtigen Deal vermasselt. Die angeblichen Piraten waren nichts weiter als eine im Voraus engagierte Theatergruppe gewesen.

    Lukianenko hatte es sich nicht nehmen lassen dem angeblichen Verantwortlichen auf Geheiß des Bosses persönlich den Daumen der rechten Hand abzuschneiden und sich an dem Blutschwall zu ergötzen. Wenn es nach Lukianenko gegangen wäre, hätte er dem Verursacher des Debakels noch ganz andere Körperpartien abgeschnitten und erinnerte sich voll perverser Erregung an den Geruch von Schweiß und Exkrementen des Kontaktmannes. Allerdings hatte eben jener Mann eine zweite Chance als Schläfer erhalten und lebte davon auch recht gut. Er kannte die Hafengegend wie seine Westentasche und war trotz seines Fehlers im Grunde unersetzbar. Selbst intern hatte man diese Art der Begnadigung durch die stählerne Maske nicht verstanden. Viele vermuteten jedoch, dass die stählerne Maske selbst einmal so behandelt worden war und auf Grund eines Fehlers seinerseits die Brandnarben in seinem Gesicht entstanden waren, die seine Maske kaschieren sollte. Da man über den Boss allerdings nur wenig Konkretes wusste, war man fast immer auf Spekulationen angewiesen. Die „stählerne Maske“ war längst eine Art lebender Mythos geworden.

    „Nun, vielleicht kann er sich ja jetzt für die Sache von damals entgültig revanchieren. Ich bin auch dafür, dass wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen.“, entschied sich Plichanow endlich und Lukianenko schüttelte verächtlich den Kopf, stimmte aber nicht mehr gegen den Vorschlag.

    „Gut, dann wäre dies ja auch geregelt. Ich schlage vor, dass wir diese Maßnahmen sofort in die Tat umsetzen. Genosse Lukianenko, ich erstelle Ihnen die Liste mit den betreffenden Personen und werde zudem das Schreiben aufsetzen, um die Gemüter irgendwie zu beruhigen. Genosse Plichanow, Sie kümmern sich also um unseren Kontaktmann. Ich schlage vor, dass wir uns heute Abend um acht Uhr wieder hier treffen, um unsere Ergebnisse zu analysieren. Viel Erfolg, Genossen.“, resümierte Semak eifrig und machte einige krakelige Notizen.

    Ohne ein Wort des Abschieds stand Lukianenko auf und verließ mit schweren Schritten den stinkenden, feuchten Raum und riss mit roher Gewalt die quietschende Tür auf, sodass einige Ratten verschreckt aus ihren Winkeln krochen. Lukianenko spuckte verächtlich in ihre Richtung und trabte davon.

    „Viel Erfolg, Genosse Semak. Ich melde mich telefonisch bei Ihnen.“, verabschiedete sich Plichanow bei seinem Kollegen und verließ mit gerümpfter Nase und sanfterem Schritt den Raum durch eine andere Eisentür, die in einen Gang mündete, der in ein altes und verlassenes Wasserwerk führte.

    Dann machte auch Semak sich auf den Weg. Er ging denselben Weg wie Lukianenko und folgte einem Labyrinth von unterirdischen Gängen, die ihn schließlich in eine verlassene Metrostation führen sollten.

    Semak kannte den Weg eigentlich wie im Schlaf. Dennoch fühlte er sich jedes Mal unwohl, glaubte in den Schatten der Seitengänge verborgene Gestalten zu erkennen und litt zudem leicht an Platzangst. Das Rascheln und Fiepen der zahllosen fetten Ratten, die um seine Füße krochen munterte seine Stimmung auch nicht gerade auf.

    Plötzlich hörte Semak jedoch dumpfe Schritte und ein leichtes Scheppern und blieb abrupt stehen. Sein Herzschlag raste, Schweiß strömte über seine flache Stirn und atemlos fuhr Semak herum. Das Geräusch war scheinbar irgendwo hinter ihm aufgeklungen, vielleicht auch in einem der linken Seitengänge, man konnte die Akustik in der alten Kanalisation nie so richtig deuten.

    Semak bestand nicht darauf näher zu erfahren, mit was er es zu tun hatte. Er fühlte sich unwohl und beschleunigte ängstlich seine Schritte, anstatt dem Geräusch auf den Grund zu gehen. Er redete sich hektisch ein, dass er wohl nur das Trippeln einer besonders dicken Ratte vernommen hatte. Er hasste diese pelzigen Viecher wie die Pest. Dazu kam noch der penetrante Geruch nach Exkrementen, die seinem Magen übel mitspielten.

    Semak rannte gerade eine kleine Treppe hoch, als er ein dumpfes Ächzen und Stöhnen hinter sich hörte und mit einer Gänsehaut mitten in der Bewegung erstarrte. Sein Herzschlag pochte unangenehm in seinem Kopf und gegen seine Rippen, sodass er sich kaum mehr auf seine Umgebung konzentrieren konnte. Hatte er sich die Geräusche bei all dem Stress vielleicht nur eingebildet?

    Semak atmete tief durch und setzte sich gerade wieder in Bewegung, als er wieder Schritte hinter sich hörte. Doch dieses Mal reagierte Semak anders als zuvor. Fluchend nahm er seine Beine in die Hand und raste die Treppe hinauf in den nächsten Gang. Er warf keinen Blick zurück, sondern dachte nur an den Ausgang aus der Kanalisation, der nicht mehr weit entfernt liegen konnte.

    Hastig rutschte er über den nassen Untergrund, bog rasch in einen Seitengang ab, der völlig durchnässt war, da sich auf der Mitte des Weges eine undichte Stelle an der Decke befand. Semak sprang über die kleinen Pfützen und hetzte in einen breiteren Gang, neben dem direkt ein stinkender Strom aus Abwasser, Exkrementen und Regenwasser floss und sämtliche Geräusche schluckte. Semak warf einen panischen Blick über seine Schultern und sah im flackernden Licht der Notbeleuchtung einen gigantische Schatten, der überraschend schnell um die Ecke kroch und ihm bereits dicht auf den Versen war.

    Semak kam zu einer vergitterten Tür, die er nervös entriegelte, um dann in einen kleineren Gang zu kommen, der ihn direkt zu einem Durchgang zur verlassenen Metrostation führen sollte. In seiner Eile schloss Semak die Gittertür gar nicht mehr hinter sich, sondern hetzte ächzend auf die Treppe zu, verfehlte eine Stufe und rutschte auf dem nassen Untergrund ungelenk aus.

    Dumpf prallte er mit seinem Kinn gegen die Unterkante einer Stufe und biss sich auf die Zunge. Ein höllischer Schmerz raubte ihm fast die Sinne, Blut tropfte aus seinem Mund und Tränen schränkten seine Sicht weiter ein. Jammernd erhob sich Semak, taumelte ein paar Stufen in die Höhe, als er ein gieriges Schnaufen und einen heißen Atem direkt in seinem Rücken spürte.

    Semak hatte die Kontrolle über seinen Körper längst verloren. Seine Knie schlotterten, seine Schließmuskel öffneten sich und zusammenhangslose Wörter kamen über seine blutigen Lippen. Mit tränengefüllte Augen ging Semak zu Boden, schlug sich seine Knie auf den harten Stufen auf, doch er nahm den Schmerz inzwischen kaum mehr wahr.

    „Bitte nicht. Bitte!“, jammerte er und wollte seiner Stimme einen lauten und schreckhaften Tonfall geben, doch sie klang nur noch schwach und monoton.

    Sein unidentifizierter Verfolger aber kannte keine Gnade und eine schwere Pranke riss Semak an seinem linken Arm so heftig herum, dass dieser ihm dabei fast ausgerissen wurde. Durch einen Tränenschleier sah Semak eine völlig entstellte Fratze, ein behaartes Gesicht mit animalischen Augen, die auf unheimliche Weise doch irgendwie klug wirkten. Das Biest riss drohend sein Maul auf und entblößte eine lange Reihe spitz zulaufender Raubtierzähne.

    Dann schlug die zweite Pranke dem bitterlich weinenden Semak dumpf gegen den Hinterkopf und raubte ihm fast das Bewusstsein, bis er einen dumpfen Schmerz an seinem Hals spürte, ein grässliches Knacken vernahm und seine Augen in eine rötliche Schwärze starrten, während seine Sinne von einem unerträglichen Gestank benebelt wurden. Fast hätte sich Semak übergeben und dieser Brechreiz war sein letzter Gedanke bevor er plötzlich seinen Körper nicht mehr spürte, nur noch Augen für die unheilvolle Schwärze hatte und sein Gesicht reflexartig zuckte.

    Sein vom Rest des in sich zusammensackenden Körpers getrennter Kopf verschwand in dem Rachen der unheilvoll brüllenden Kreatur, bevor sie diese Körperpartie wieder wuchtig ausspie und der Schneise der Verwüstung, die sie selbst geschaffen hatte, den Rücken zukehrte. Als grausiges Andenken lag der Körper des toten Russen mitten auf der Treppe, während der Schädel zurück bis zu der Gittertür gerollt war.

    Nun war hingegen die Zeit der Ratten gekommen, die gierig durch die dreckigen Gänge und aus dem Abwasserstrom hervorkrochen, nachdem die Kreatur in der Tiefe des Labyrinthes endlich verschwunden war.

     

    Vitali schreckte aus seinem Holzstuhl hoch, den er sich bequem vor dem Tisch mit der Schreibmaschine gestellt hatte, an der er einen ausführlichen Artikel zu den Ereignissen der Morgenstunden geschrieben hatte. Inzwischen war es früher Nachmittag geworden und kalte Sonnenstrahlen fielen geradewegs in seine neue Wohnung ein.

    Erst jetzt realisierte Vitali das Klopfen an seiner Tür, trat vom Tisch weg und an der Tür zu Küche und Badezimmer vorbei durch einen kleinen Flur, der zu einer Garderobe und direkt daneben zur Eingangstür führte. Durch den Türspion bemerkte Vitali die schöne französische Studentin, die ihm ein wenig gequält zulächelte.

    Freudig schloss Vitali seine Tür auf und verbeugte sich leicht vor der schönen Dame, die nun doch ein wenig freundlicher lächeln musste.

    „Nun, hast du die Geheimnisse von Gogols Nase schon tief ergründet?“, fragte Vitali mit einem spöttischen Lachen, das die Atmosphäre sofort auflockerte.

    „Nasen sind nicht gerade die Körperpartien, die mich vorrangig interessieren, Vitali. Aber wir kommen mit dem Stück gut voran, falls du das meinst.“, gab Eva charmant zurück.

    Vitali durchfuhr bei dieser Bemerkung ein heißer Schauer und er blickte die französische Schönheit unverhohlen an. Sie trug ein gelbes, sommerlich locker wirkendes Oberteil mit kurzen Ärmeln, darunter einen Jeansrock und eine elegant wirkende schwarze Strumpfhose. Ihre silbernen Schuhe wirkten grazil, aber nicht übertrieben hochhackig. Die Französin hatte sich dezent geschminkt und ihre Farben passten wunderbar zu dem lockeren Stil ihres Oberteils.

    „Hast du noch nicht genug gesehen oder darf ich hereinkommen?“, fragte Eva mit glockenhellem Lachen und Vitali errötete vor Scham. Der Journalist beeilte sich seinem Gast rasche Einlass zu gewähren.

    Anerkennend nickend blickte sich die Französin um, während Vitali die Tür hinter ihr schloss.

    „Für einen Junggesellen hast du dich sehr sorgsam und gepflegt eingerichtet.“, bemerkte sie ein wenig überrascht.

    „Das ist nur der erste Eindruck. Sobald ich hier die ersten Artikel schreibe, wird alles im Chaos versinken.“, gab Vitali bescheiden zu und bot der Französin etwas zu trinken an.

    Eva Maelle Lavoie wählte einen Obstsaft, während Vitali mit einem Glas klaren Wasser vorlieb nahm. Dann nahmen sie beide am Küchentisch Platz und warfen sich gegenseitig verstohlene Blicke zu, bevor die Französin ihr Glas mit einem Ruck abstellte und ein etwas ernsteres Gesicht machte.

    „Was ist los mit dir? Schmeckt der Saft nicht?“, fragte Vitali besorgt und griff instinktiv nach der Hand der Französin. Als er sich seiner Tat bewusst wurde, zog er sie schnell wieder zurück, was bei Eva ein leichtes Schmunzeln verursachte. 

    „Doch, der Saft ist ausgezeichnet. Ich würde gerne selbst solch einen haben. Sehr fruchtig und gut gemischt.“, stellte Eva anerkennend fest.

    „Den wirst du im Laden nicht finden. Meine Mutter hat ihn selbst gemacht und mir einige Rationen mitgegeben. Ich kann gar nicht genug davon kriegen.“, gab Vitali lächelnd zu und Eva nickte anerkennend.

    „Ja, so ist das mit den guten Müttern. Meine hat immer wunderbare Flammkuchen gemacht und ihre Crêpes waren auch nie zu verachten. Nein, aber ich musste gerade nur an heute Morgen denken. Schrecklich, was da passiert ist, eine Schauspielkollegin hat mir davon berichtet. Man muss die Leichen gefunden haben, kurz nachdem ich aus dem Haus gegangen war.“, bemerkte Eva mit leiser und dunklerer Stimme als gewöhnlich.

    Vitali stelle sein Glas ebenfalls ab und atmete tief durch.

    „Ich hatte mir meinen Umzug und meine Eingewöhnungsphase hier ein wenig ruhiger vorgestellt. Ich habe mir heute Morgen direkt Sorgen um dich gemacht. Vor allem, als ich erfahren habe, dass du gestern Abend noch unterwegs warst und um die Uhrzeit zurückgekehrt bist, als dieser grausige Mörder seinen Opfern aufgelauert hat.“, bemerkte Vitali in ernstem Tonfall.

    „Ich war gestern am Gribojedow-Kanal unterwegs. Eine Bekannte von mir hat dort ein kleines Hausboot und wir haben dort in gemütlicher Runde gefeiert bis in den frühen Morgen.“, erklärte die Französin mit einem Frösteln.

    „Nachts allein unterwegs zu sein ist für eine solch schöne Frau für dich immer gefährlich.“, bemerkte Vitali mit einem Lächeln und versuchte die Atmosphäre wieder ein wenig aufzulockern, indem er seiner Gesprächspartnerin russische Schokolade verschiedenster Sorten in grellbunten Papieren anbot. Die Französin nahm das Angebot dankbar an und knabberte auf einem der Stücke nachdenklich herum.

    „Ich weiß auf mich aufzupassen. Vor einem Jahr haben mich einmal drei Typen nachts in Lille überfallen, die mich vergewaltigen wollten. Sie dachten, sie hätten in der Metro leichtes Spiel mit mir, aber ich habe einem von denen die Nase gebrochen, den anderen windelweich geschlagen und der dritte hat an der nächsten Station panisch die Flucht ergriffen. Ihre Gesichter werde ich bis heute nicht vergessen. Vermutlich war die Sache für diese Halbstarken mehr eine Art Mutprobe gewesen. Immerhin hatten sie es geschafft meine schönste Bluse bei der Auseinandersetzung zu zerfetzen.“, bemerkte die Französin mit einem wehleidigen Blick.

    „Lieber die Bluse wurde zerkratzt, als dein schönes Gesicht. Wenn du willst gehen wir mal gemeinsam einkaufen und ich kaufe dir eine schöne neuen Bluse.“, bot Vitali an und die Französin lächelte charmant und ergriff ihrerseits nun die Hand des jungen Journalisten, dem sofort ein süßlicher Schweiß ausbrach und der sein Glück kaum fassen konnte.

    „Da kann ich schlecht widerstehen.“, hauchte Eva Maelle Lavoie und zwinkerte Vitali eindeutig zu.

    „Ich auch nicht.“, fügte er unbeholfen und leicht krächzend hinzu und konnte seinen Blick nicht von der schönen Dame ihm gegenüber lösen.

    „Ein wenig russische Kultur, beigebracht von einem charmanten und jungen Mann aus der Hauptstadt, kann gar nicht falsch sein.“, meinte die Französin mit einem verschmitzten Lächeln und Vitali hatte inzwischen eine erregte Gänsehaut bekommen und scharrte unruhig mit seinen Füßen unter dem Tisch.

    In diesem Moment fielen die Sonnenstrahlen durch das Fenster der Küche und tauchten die Französin in ein fast engelhaftes Licht. Vitali staunte über ihre reine, weiche Haut und ihr edles, offenes Haar und war völlig sprachlos, was bei dem Journalist schon berufsmäßig äußerst selten vorkam.

    Erst nach einigen Sekunden, die Vitali wie eine halbe, schöne und unsterbliche Ewigkeit vorgekommen waren, löste die Französin ihren Blick von Vitali und zog ihre filigrane Hand sanft zurück. Vitali hatte Lust diese Hand zu nehmen, sie zu küssen, sie zu umschmeicheln und nie mehr los zu lassen. Er spürte eine nie gekannte Leichtigkeit in sich, die er selbst bei seiner letzten Freundin, einer ambitionierten Studentin aus Moskau, die wenig Zeit für ihn gehabt hatte, nie gespürt hatte. Er spürte einfach, dass die Französin ganz anders war, als alle Mädchen, die er so gekannt hatte. Mit Wehmut dachte er schon daran, dass die edle Französin lediglich bis zum Ende des Jahres in Russland verweilen würde. Er wusste schon jetzt, dass dieser Abschied ihm in jedem Fall sehr schwer fallen würde.

    Unwillig schüttelte er den Kopf und warf diesen Gedanken ab. Er wollte sich jetzt keine Sorgen machen, sondern seine Zeit hier genießen. Zudem hatten die beiden bislang bestenfalls geflirtet und so wollte er noch nichts überstürzen. Und doch fühlte Vitali sich magisch angezogen und wollte es bei den vorsichtigen Annäherungen gewiss nicht belassen. Andererseits fragte er sich, ob er als einfacher und armer Journalist eine solche Frau überhaupt verdient hatte. Sie hatte sicher viel höhere Ambitionen als er selbst, war sehr klug und extrovertiert und schien auch nicht gerade aus den ärmsten Verhältnissen zu stammen. Vitali fragte sich, was ihre Familie wohl dazu sagen würde, wenn sie erfuhr, dass die französische Schönheit sich mit einem einfachen Russen eingelassen hatte. Auf der anderen Seite hatte Vitali schon immer ein Faible für ausländische Frauen gehabt, den Grund dafür konnte er sich bei seinen eher konservativ eingestellten Eltern selbst nicht erklären.

    „Jetzt fällt mir auch gerade ein, dass ich gestern vor dem Haus noch einen anderen Mitbewohner getroffen habe. Pawel Edmundowitsch Gluschenko, ein Hafenarbeiter. Er wohnt ein Stockwerk unter uns. Er wirkte seltsam erregt, völlig verschwitzt und ziemlich schmutzig.“, bemerkte die Französin, die wieder ein wenig ins Grübeln gekommen war.

    Ernüchternd seufzend löste sich Vitali von seinen erwärmenden Gedanken und nahm den Faden zu diesem unangenehmen Thema wieder auf. Dabei kaute er auf einem besonders harten Keks mit Karamelfüllung herum.

    „Vielleicht hatte er einen anstrengenden Schichtdienst.“, warf Vitali schulterzuckend ein.

    „Ich habe drei Jahre meines Lebens in der französischen Hafenstadt Calais verbracht. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, mein Vater blieb in Lille, meine Mutter zog es nach Calais und später nach Paris. Meine Mutter hatte in Calais einen neuen Freund, einen marrokanischen Hafenarbeiter. Er und seine Freunde hatten immer einen ganz eigentümlichen Geruch, wenn sie von ihrem Schichtdienst kamen. Sie rochen nach altem Meereswasser, nach Öl oder Benzin. Jedenfalls hatten sie alle den gleichen undefinierbaren Geruch. Dieser Gluschenko hatte den gewiss nicht. Ich habe ihn noch nie bei ihm bemerkt.“, stellte die aufmerksame Französin fest und trank den letzten Schluck ihres Saftes aus.

    „Du willst also sagen, dass er möglicherweise etwas mit den Morden zu tun hatte?“, fragte Vitali, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte und an den Kühlschrank ging, um der Französin ein wenig Saft nachzuschenken.

    „Das will ich nicht einmal sagen. Er wirkte seltsam erregt, als ob er unter Drogen stünde. Er hat kein Wort mit mir gewechselt, ist wie ein Verrückter ins Haus gerannt und hat sich dann fast panisch in seinem Zimmer eingeschlossen. Das war richtig unheimlich.“, bemerkte die Französin, die sich nun ebenfalls erhoben hatte und einige Blumenvasen auf der Fensterbank begutachtete. Das Fenster selbst führte auf die Gasse hinaus, aus der am frühen Morgen die Polizisten mit dem Toten gekommen waren. Der Bereich war immer noch weiträumig abgesperrt, aber es war keine Menschenseele zu sehen, bis auf einen schmierigen Geschäftsmann, der gar nicht in die Hafengegend passen wollte und argwöhnisch blickend an der Gasse vorbeischlenderte und auch die Außenfassade des Hauses kritisch beäugte.

    „Vielleicht hat er die Tat zufällig mit ansehen müssen und stand unter Schock. Die Polizei wollte jedenfalls noch einmal mit ihm sprechen. Mit dir im Übrigen auch.“, bemerkte Vitali und kehrte mit einem gefüllten Saftglas zu der Französin zurück, die nachdenklich am Fenster stehen geblieben war. Vitali roch ihr angenehmes, dezentes Parfüm und staunte wieder über die elegant frisierte Haarpracht der Französin.

    Langsam wandte sich Eva Maelle Lavoie zu Vitali um, nahm lächelnd das Glas entgegen und prostete dem Journalisten zu, der sein eigenes Glas ebenfalls mit Saft nachgefüllt hatte.

    „Auf eine schöne Zeit in Sankt Petersburg!“, rief der Russe feierlich.

    „Auf eine schöne Zeit für uns.“, fügte die Französin mit einem glockenhellen Lachen hinzu, als sie das errötete Gesicht ihres Gegenübers bemerkte.

    In nur wenigen Zügen leerte die Französin ihr Glas, bedankte sich sanft und tätschelte Vitali dabei zärtlich auf die Schulter, bevor sie ihm einen zarten Kuss auf die Wange hauchte und sich für einige Hausaufgaben in ihr eigenes Appartement zurückzog.

    Als die Tür hinter der Schauspielerin zugefallen war, atmete Vitali tief durch und ließ sich mit einem glückseligen Lächeln in sein Bett fallen. Kurz darauf fielen ihm auch schon die Augen zu und er sank in einen leichten Schlaf und wirren Traum, in dem sowohl sein neuer Schwarm, als auch ein düsterer, unerkennbarer Mörder ihr Unwesen trieben.

     

    Sergej Wiktorowitsch Stepanow saß in einem engen Raum mit schmutzigen Fensterscheiben und einem brummenden Computer und spielte nachdenklich mit seinem Füllfederhalter, während er sich in dem Redaktionszimmer umsah. Er hatte seinen Arbeitsplatz mit diversen Postern verschönert, hauptsächlich mit ehemaligen Spielern von Zenit Sankt Petersburg, aber auch einige Poster bekannter russischer Bands hatte er aufgehangen. Lustlos pickte er hin und wieder in einigen aufgewärmten Pelmeni, Teigtaschen mit Fleischfüllung, die er sich in der Mittagspause geholt hatte oder starrte auf den flackernden Bildschirm.

    Seit einer guten Stunde saß er nun schon an einem Artikel, doch die Ereignisse vom frühen Morgen ließen seine Konzentration immer wieder schwinden. Hin und wieder starrte er gedankenverloren auf den Leninskiy Prospekt nahe der Metrostation Moskovskaya, wo sich die Zeitungsredaktion befand.

    Sergej schrak aus seinen trüben Gedanken hoch, als plötzlich schrill das Telefon klingelte. Seufzend starrte er auf den überlauten schwarzen Apparat, der auch nach einigen Sekunden nicht verstummen wollte und nahm ungehalten ab. Eine neuerliche Störung würde ihn noch weiter vom Fertigstellen seines Artikels abbringen.

    „Stepanow hier, vom Moskovskaya Kurier.“, meldete sich Sergej kurz angebunden.

    „Sergej, ich bin es, Sascha Smertin.“, antwortete ihm eine flüsternde, hektische Stimme, die er nur zu gut kannte.

    Sascha Sergejewitsch Smertin war ein Kleinkrimineller, dem Sergej vor einigen Monaten zufällig aus der Patsche geholfen hatte. Seitdem bekam er von dem jungen Russen hin und wieder gewisse Insiderinformationen und wusste, was in der Unterwelt der Stadt vor sich ging. Allerdings hatten die beiden schon seit geraumer Zeit keinen intensiven Kontakt mehr gepflegt.

    „Sascha, ich habe wenig Zeit. Was gibt es?“, fragte Sergej ein wenig ungehalten.

    „Sergej, ich habe auch nicht mehr viel Zeit! Ich bin bei unserem Treffpunkt im Hafen. Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht nur beobachtet, sondern auch verfolgt werde. Es hat etwas mit diesen vier Morden in dem Viertel zu tun, da bin ich mir ganz sicher!“, ächzte der Kleinkriminelle hektisch.

    Da wurde Sergej hellhörig und richtete sich aus seinem billigen Sessel aus unechtem Leder auf. Sofort griff er zu Stift und Papier und versuchte seinen Gesprächspartner zu beruhigen.

    „Ganz ruhig Sascha. Erst einmal der Reihe nach gehen. Was ist passiert?“, erkundigte sich Sergej deutlich freundlicher, aber dennoch in klarem und hartem Tonfall.

    „Ich war gestern noch in der Gegend unterwegs, habe die schöne Evgenija besucht. Auf meinem Rückweg bin ich dann durch die Gassen des Hafenviertels gekommen und habe direkt eine enorme Unruhe bemerkt. Einige bullige Typen unter der Knute von Matschiwjenko haben sich herumgetrieben und fieberhaft nach irgendeinem Flüchtigen gesucht. Ich habe einen großen Bogen um sie gemacht, wollte keinen Ärger haben. Da kam mir plötzlich so ein völlig verschwitzter Typ entgegen, der völlig nervös wirkte, mich entsetzt anstarrte und dann eilig davonlief. Eine Seitenstraße weiter habe ich dann diesen anderen Toten liegen sehen, Kozakow heißt er. Und das ist nicht alles Am Ende der Gasse habe ich in der Notbeleuchtung einen riesigen Schatten gesehen von einer großen Kreatur, die davonschlich. Ich könnte schwören, es sei ein Monster oder Dämon gewesen, wenn ich so etwas nicht für Aberglaube halten würde. Meine Mutter Tatjana hatte vielleicht doch damit recht, dass sich in dieser Gegend böse Geister herumtreiben.“, berichtete Sascha heftig keuchend und atemlos zugleich.

    Sergej wurde der Bericht zu bunt und er unterbrach den nervösen Kleinkriminellen rasch.

    „Bist du sicher, dass du nicht nur das ein oder andere Bier zu viel getrunken hast, mein lieber Sascha?“, fragte Sergej spöttisch zweifelnd.

    „Verdammt, du kannst mir glauben. Als ich den Typen da liegen gesehen habe, war ich auf einen Schlag wieder nüchtern!“, schwur Sascha mit gepresster Stimme.

    „Und jetzt glaubst du, dass diese, sagen wir mal, Kreatur dich verfolgt?“, hakte Sergej nach und klang immer noch alles Andere als überzeugt.

    „Nein, nein, nicht dieses Monstrum. Der verschwitzte Typ, der mir über den Weg gelaufen ist. Er muss etwas damit zu tun haben. Ich habe das Gefühl ihn ständig zu sehen, es ist einfach grausam.“, stotterte Sascha und ein verzerrtes Knacken drang aus der Leitung.

    „Du bist nicht zufällig ein wenig paranoid?“, wollte Sergej sehr direkt wissen und hörte ein keuchendes Atmen seines Gesprächspartners, das durch die schlechte Leitung überlaut zu hören war.

    „Verdammt, du könntest mir wenigstens einmal glauben! Ich lüge dich nicht an!“, fauchte Sascha mit gepresster Stimme und Sergej hob beschwichtigend seine Arme, obwohl sein Gesprächspartner ihm gar nicht gegenüber saß. Er fühlte jedes Telefonat sozusagen mit und war stets mit vollem Herzen bei der Sache. Auch jetzt konnte er sich den ungewaschenen, kleinwüchsigen Sascha vorstellen, der nervös hin und her wandernd in einer der halb zerfallenen und scheibenlosen Telefonhäuschen stand.

    „Beschreibe mir wenigstens den Kerl, dem du über den Weg gelaufen bist!“, forderte Sergej seinen Kontakt auf.

    „Das kann ich nicht am Telefon. Er war etwas jünger als ich, ein wenig größer auch und schlaksig. Sein Gesicht, das war richtig schlimm, irgendwie völlig vernarbt. Herrgott, Sergej, komm bitte vorbei, ich kann nicht länger warten!“, ächzte der Kleinkriminelle jetzt in hoher und panischer Tonlage.

    „Warum sagst du das alles nicht der Polizei?“, wollte Sergej noch wissen.

    „Verdammt, dann würde mich dieser Typ doch bei nächster Gelegenheit umbringen, wenn diese Idioten mit ihren Sirenen aufkreuzen und alle Leute aufscheuchen. Selbst dezentere Bullen kann man in unserer Gegend auf einem Kilometer gegen den Wind riechen. Ich möchte hier nicht mein Todesurteil unterschreiben. Komm vorbei! Sofort! Bitte!“, schrie Sascha jetzt außer sich vor Verzweiflung ins Telefon und legte dann hektisch auf.

    Nachdenklich blickte Sergej auf den Hörer, aus dem nur noch ein monotones Tuten drang. Er hatte seinem Kontakt eigentlich noch etwas mitteilen wollen, es aber bereits wieder vergessen. Er wog kurz ab, ob er der Forderung des Kleinkriminellen tatsächlich Folge leisten sollte. Er kannte Sascha gut genug, um zu wissen, dass er oft und gerne übertrieb und ein großer Schwätzer war. Aber in diesem Fall hatte er ernsthaft besorgt und sogar panisch geklungen. So hatte Sergej ihn tatsächlich in den heikelsten Situationen noch nicht erlebt. Seine Entscheidung war längst gefallen.

    Seufzend schaltete Sergej den Computer aus, griff zu seiner schwarzen Lederjacke, die über seinem Stuhl hing und verließ mit einer knappen Erklärung gegenüber seines ungehalten wirkenden Chefredakteurs das Gebäude. Sergej entschied sich für die Metro gegenüber seines Ladas, da der Innenstadtverkehr um diese Uhrzeit bereits gigantische Ausmaße angenommen hatte.

    Mit gemischten Gefühlen machte er sich auf den Weg in die Hafengegend. Irgendwie ließ ihn das drückende Gefühl nicht los, dass in diesem Fall jede Sekunde entscheidend sein konnte.

     

    Nachdem Vitali durch ein undeutbares Geräusch aus seinem unruhigen Schlaf gerissen worden war, hatte der junge Journalist endlich seinen Artikel fertig gestellt und sich mit einer eiskalten Dusche von der Müdigkeit befreit. Danach nahm sich der junge Russe vor, sich ein wenig in der Stadt zu bewegen und verließ am späten Nachmittag noch einmal seine Wohnung. Auf der Treppe wäre er beinahe mit einem fein gekleideten Geschäftsmann zusammengestoßen, der mit grimmigem Gesicht aus einem der Zimmer im ersten Stock getreten war. Vitali sah im Vorbeigehen das schüchterne, verschwitzte Gesicht eines Mannes, dessen rechte Gesichtshälfte durch eine längliche Narbe entstellt war. Der Mann beeilte sich die Tür zu seiner unaufgeräumt wirkenden Wohnung zu schließen.

    Vitali passierte den mürrisch wirkenden Geschäftsmann, der ihm feindselig nachblickte, sodass Vitali ein leichtes Schaudern bekam. Er ging davon aus, dass der nervöse Zimmerbewohner der seltsame Gluschenko gewesen sein musste. Vitali überlegte kurz, ob er die Polizei verständigen sollte, die den unheimlichen Mann ja noch befragen wollte, doch er verwarf diesen Gedanken mit einem unguten Gefühl wieder. Er wollte sich nicht direkt unbeliebt bei seinen Nachbarn machen und in Dinge einmischen, die ihn selbst im Grunde wenig angingen. Dennoch war ihm die Sache alles Andere als koscher. Warum erhielt ein schäbiger Hafenarbeiter Besuch von einem herausgeputzten Geschäftsmann? Vitali tippte instinktiv darauf, dass es bei der ganzen Geheimniskrämerei möglicherweise um illegale Schiffslieferungen gehen konnte, vielleicht waren auch Drogen im Spiel.

    Vitali war erleichtert, als er aus dem eng wirkenden und stickigen Treppenhaus hinaus auf die Hauptstraße fand, wo er endlich tief durchatmen konnte. Es war immer noch relativ kalt draußen, die Temperaturen lagen trotz des Sonnenscheins nur unweit über dem Gefrierpunkt. Vitali zog seinen Schal von Zenit Sankt Petersburg enger um seinen Hals und setzte sich eine dunkle Wollmütze auf.

    Der junge Journalist ging zu dem nicht weit entfernt liegenden Fluss Bol’shaya Izhorka, der trotz seines Namens eigentlich mehr ein kleiner Kanal war. Der frische Wind vom Hafen hinter ihm und das Geschrei der Möwen weckten die müden Glieder des Journalisten, der sich vorgenommen hatte bis zum Izmaylovkiy Prospekt zu gehen, der ihn auf fast direktem Weg zur Dreifaltigkeitskathedrale führte, die der gläubige Russe sich heute ein wenig ansehen wollte. Er hatte in den letzten Tagen und Wochen schon viele Kirchen und andere Denkmäler in der russischen Metropole am finnischen Meerbusen gesehen und gestand sich insgeheim sogar ein, dass er diese Stadt fast noch mehr mochte als Moskau. Lediglich ein Besuch der Peter-und-Paul-Festung und eine Besichtigung des prächtigen Eremitages waren ihm bislang noch nicht geglückt, denn dazu hatte die Zeit gefehlt.

    Auch heute streifte Vitali wieder viele Touristen, vor allem Schulklassen, die sich hektisch durch die Straßen der Stadt bewegten, um ihren Reiseleitern oder Lehrern zu folgen. Straßenmusikanten spielten leidenschaftlich Geige, Trompete oder sogar hin und wieder eine Dombra, was eigentlich ein zentralasiatisches Zupfinstrument ist. Vitali fühlte sich in dieser friedlichen und dennoch belebten Atmosphäre wohl und konnte sich ein wenig ablenken.

    Nach einiger Zeit erreichte er endlich die Dreifaltigkeitskathedrale, deren leuchtend blau gestrichenen Kuppeln er bereits aus einiger Ferne ausmachen konnte. Staunend schlenderte Vitali über den weiträumigen Platz auf den Eingang der eleganten Kathedrale zu, vor dem sechs weiße Säulen das kurze Vordach stützten.

    Andächtig zog der Journalist das Portal auf und trat leise in die Kathedrale, die sich als dreischiffiges Bauwerk erwies und durch mächtige Säulen mit korinthischen Kapitellen gegliedert war. Die Gewölbe und die Innenseite der Kuppel waren von edlen Malereien verziert. Die Zerstörungen durch den Brand bei den Restaurierungsarbeiten waren komplett verschwunden und der Wiederaufbau hatten dem Gebäude wenig von seinem alten Charme genommen.

    Ehrfurchtsvoll näherte sich Vitali, der sich seines Schals und seiner Mütze entledigt hatte, den vorderen Sitzreihen und musterte Reliquien und den Altar im vorderen Bereich. Außer ihm befanden sich nur wenige Touristen und ein korpulenter Mönch in der Kathedrale. Vitali ergriff eines der arg lädierten Gebetsbücher und nahm zögernd neben dem Mönch Platz, der in einem stillen Gebet vertieft war.

    Auch Vitali ließ sich von der heiligen Atmosphäre inspirieren und schloss beim Gebet die Augen, um sich mehr auf seine Wünsche, Sorgen und sein Zwiegespräch mit einer höheren Macht zu konzentrieren. Vitali betete für seine Familie, für seinen Neuanfang in Sankt Petersburg und zuletzt sogar für seine neue französische Bekanntschaft.

    Als er das Gebet beendet hatte, war der frühe Abend schon längst angebrochen und draußen war es dunkel und kalt geworden. Vitali war aus einem tranceähnlichen Zustand erwacht und spürte erst jetzt die Kälte in dem edlen Bauwerk.

    Neben ihm hatte auch der ältere Mönch ins einer braunen Kutte sein stummes Gebet soeben beendet und lächelte aus seinem zerfurchten und mit einem wuscheligen, rotbraunen Vollbart übersäten, aber durchaus warmherzigen und sympathischen Gesicht dem Journalisten zu.

    „Du bist neu hier in der Kathedrale, mein Bruder.“, stellte der Mönch mit sanfter Stimme fest.

    „In der Tat, Bruder. Ich heiße Vitali Sergejewitsch Aljenikow. Ich komme aus Moskau und bin erst seit wenigen Wochen in der Stadt. Ich arbeite als Journalist.“, antwortete Vitali ruhig und respektvoll, denn er war sehr froh mit einem Mönch in Kontakt zu treten.

    „Ein schwerer Job. Da ist es wichtig sich auf seinen Glauben zu besinnen und seine innere Ruhe zu finden. Ich bin Bruder Gregor Wassiljewitsch Puschkin und lebe in einem Kloster bei Pobeda, im Nordwesten von hier.“, berichtete der Bruder gelassen und verbeugte sich sogar leicht, um seinem Gegenüber ebenfalls Respekt zu zollen.

    „Nun, das ist ja doch eine ganz schöne Strecke bis hierhin.“, stellte Vitali anerkennend und gleichsam erstaunt fest.

    „Wohl wahr, aber sie ist es mir wert, um regelmäßig in dieser schönen Kathedrale hier vorbeizuschauen und andere Gläubige zutreffen. Ich habe mich auch bei den Aufbauarbeiten engagiert und bin meist einmal im Monat für ein verlängertes Wochenende hier. Ich wohne dann beim Priester der Gemeinde, direkt hier nebenan.“, erklärte der Mönch redselig und schien froh zu sein, einen interessanten Gesprächspartner gefunden zu haben.

    „Das ist faszinierend. Mir gefällt es hier sehr, ich werde bestimmt des Öfteren hierhin zurückfinden.“, pflichtete Vitali begeistert bei.

    „Wo genau wohnst du, mein Bruder?“, wollte der Mönch wissen und erhob sich langsam von der einfachen und auf Dauer recht ungemütlichen Holzbank.

    Beide traten hinaus in einen Seitengang der Kathedrale und steuerten gemächlich auf deren Ausgang zu. Mittlerweile waren sie ganz allein im Raum und Vitali hatte die Möglichkeit die feinen Stuckfassaden, Schnitzereien und Malereien eingehender zu bewundern. Die Schönheit des Gotteshauses verschlug ihm erneut so sehr die Sprache, dass er erst nach einigen Augenblicken beschämt und ein wenig hastig Antwort auf die Frage des Mönches gab.

    „In der Hafengegend, nur etwa eine halbe Stunde Fußmarsch von hier.“, warf Vitali daher rasch ein.

    „Gott bewahre! Schrecklich, was dort heute Morgen passiert sein muss. Es war schon immer ein Viertels des Lasters und der Sünde, aber dies kann nur die Tat einer dämonischen Kreatur sein!“, behauptete der Mönch und wirkte mit einem Mal sehr erregt und war ganz blass im Gesicht geworden.

    „Sie wissen schon davon?“, hakte Vitali erstaunt nach. Er war stehen geblieben, hatte die Stirn gerunzelt und wunderte sich ein wenig über den Kommentar des Mönches, doch er wollte der Respekt einflößenden Person zunächst nicht widersprechen.

    „Gewiss, so etwas Schreckliches spricht sich schnell herum. Glaube mir, das war erst der Anfang. Mein sechster Sinn hat mich bei solchen Dingen noch nie betrogen.“, fügte der Mönch hinzu und wirkte jetzt langsam wieder beruhigter.

    Vitali schlenderte schweigend neben dem Glaubensbruder her und wusste nicht so wirklich, was er nun erwidern sollte. Er musterte seinen Begleiter aufmerksam. Der Mönch hatte im Brustton der Überzeugung gesprochen und wirkte nicht wie ein übereifriger Spinner. Vitali selbst glaubte zwar an Gott, aber an dämonische Wesen hatte er noch nie geglaubt und solche Schauergeschichten immer ins Reich der Märchen und Legenden abgetan. Er lächelte kurz, denn er dachte bei sich, dass der Mönch wohl wirklich fest an solche Dinge glaubte und eben eine etwas altmodische Einstellung zu diesen Dingen hatte und diese ein wenig stur vertrat.

    Dem Glaubensbruder war der kritische Seitenblick nicht entgangen und sein wacher Blick aus haselnussbraunen, jung wirkenden Augen traf den des Journalisten, der sich ein wenig beschämt abwandte und sich leicht räusperte. Der Mönch blieb stehen und hob mahnend seinen Zeigefinger. Vitali hatte fast Angst eine Standpauke zu bekommen, doch dem war nicht so.

    „Bruder Vitali, du magst mich wohl nun für einen abergläubigen Spinner halten und ich kann dir dies gewiss nicht verübeln. Doch ich bin bei klarem Menschenverstand und du darfst mir glauben, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als man sich vorstellen kann oder mitunter auch möchte.“, belehrte der Bruder seinen Gesprächspartner ruhig, aber durchaus bestimmt.

    „Das glaube ich Ihnen gerne. Ich halte Sie gewiss für keinen Spinner.“, warf Vitali abschwächend ein.

    „Du musst dich für deine Meinung nicht schämen. Ich hoffe sogar, dass der Tag nie kommen mag, an dem du mir Glauben schenkst. Ich habe viel Unheil auf diesem Planeten gesehen und viele Brüder sind daran zerbrochen. Die Erkenntnis ist ein schweres Schicksal. Du sollst diese Last nicht auch noch mit dir tragen, Bruder Vitali.“, fügte der Glaubensbruder orakelhaft hinzu und setzte sich langsam wieder in Bewegung, während Vitali ein wenig verständnislos und überrascht versuchte mit dem bärtigen und weisen Mann Schritt zu halten.

    „Von welcher Erkenntnis sprechen Sie genau, Bruder Gregor?“, wagte Vitali endlich zu fragen, als beide schon das schwere Holzportal am Eingang erreicht hatten und einen letzten Blick zurück in die gewaltige Kathedrale warfen.

    Bruder Gregor blickte ihn ernst an und seine wachen Augen schienen bis auf die Seele des Journalisten sehen zu können. Vitali bekam unwillkürlich eine Gänsehaut. Er spürte, dass der Glaubensbruder eine ganz bestimmte, fast schon magische Atmosphäre ausstrahlte, die besonders in der stillen Kathedrale ihre Wirkung nicht verfehlte.

    „Die Zeit ist noch nicht reif für dich, Bruder Vitali. Aber ich fühle mich dir verbunden. Du bist ein gottestreuer und aufmerksamer Mensch. Ich möchte, dass du das hier trägst.“, begann der Glaubensbruder, ergriff eine Kette, die um seinen Hals hing, zog seine Kutte ein wenig herunter und beförderte die Kette schließlich über seinen Kopf hinweg, sodass Vitali sehen konnte, was der Mönch ihm nun anbieten wollte.

    An einer einfachen Silberkette hing ein edles, aber dezent verziertes Agnus Dei. Vitali erkannte das Symbol des Opferlamms, das die Siegesfahne auf seinem Rücken trug nur allzu gut. Es war ein christliches Symbol für die Auferstehung Jesu Christi, der als Lamm Gottes bezeichnet wurde und die Sünde der Menschheit auf sich nahm.

    Vitali war von der Kette tief beeindruckt und blickte Bruder Gregor ungläubig an. Sein Mund öffnete sich, doch er brachte keinen Laut hervor. Vitali war völlig sprachlos.

    Doch sein Gegenüber zögerte nicht länger, nahm die Kette und streifte sie behutsam über den Kopf des jungen Journalisten. Vitali spürte die Wärme des silbernen Metalls und bekam unwillkürlich eine ehrfurchtsvolle Gänsehaut, als er die Kette auf seiner Haut spürte. Der junge Journalist spürte instinktiv, dass es mit diesem Talisman etwas Besonderes auf sich haben musste.

    „Das kann ich unmöglich annehmen, Bruder Gregor.“, stotterte Vitali hilflos und überwältigt zugleich, doch sein Gegenüber legte ihm beide Hände kräftig auf die Schultern und blickte ihn wieder eindringlich an.

    „Diese Kette wird dich vor allen übernatürlichen Gefahren und Feinden schützen. Du musst nur fest daran glauben und beten, dann kann diese Kette Leben retten. Allein der Anblick dieses Symbols kann viel bewirken. Nur Auserwählte können diese Kette ohne Risiko berühren, alle anderen Wesen könnten es mit ihrer Existenz bezahlen. Du brauchst nicht besorgt zu sein, jeder meiner Brüder trägt eine solche Kette und im Kloster wird es sicher noch ein weiteres Exemplar für mich geben. Du aber sollst dieses behalten. Und falls du dem Unheil wahrhaftig gegenüber treten solltest, so kontaktiere mich und ich werde dich tiefer in diese Geheimnisse einführen. Du weißt, dass du mich hier oder im Kloster finden kannst. Pass auf dich auf und meide die Gefahr, Bruder Vitali. Denke immer an meine Worte.“, erklärte der Mönch eindringlich und Vitali nickte stumm und benommen. Die Worte des Mönches hatten sich bereits jetzt auf ewig in seiner Erinnerung eingeprägt.

    Vitali fand keine Worte, als der besorgte Mönch das schwere Portal der Kathedrale aufstieß und sie beide nach draußen ins Freie taten. Sofort empfing sie eine eisige Kälte und der Lärm der Stadt, sodass die Magie ihres Zusammentreffens in der Kathedrale geradezu fern und unwirklich erschien.

    Bruder Gregor lächelte Vitali zu, trat dann näher zu ihm und umarmte ihn herzhaft, was Vitali ein wenig schüchtern erwiderte. Doch obwohl er den Bruder erst seit wenigen Minuten kannte, wirkte er auf ihn schon wie ein guter und vertrauter Bekannter.

    Bruder Gregor löste sich von ihm und lächelte. Dieses Mal wirkte er wieder völlig ausgeglichen und optimistisch.

    „Unsere Wege trennen sich vorerst hier. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns sehr bald wiedersehen werden.“, stellte der Mönch abschließend fest und in seiner Stimme lag solch eine Gewissheit, dass Vitali gar nicht an den Worten zweifelte.

    „Ich danke dir, Bruder Gregor.“, krächzte er und war erstaunt, dass er überhaupt wieder seine Sprache zurückgefunden hatte.

    Der junge Journalist dachte hektisch nach, wollte dem Mönch noch etwas sagen und einige Verwirrungen aus der Welt schaffen, doch da hatte sich der Geistliche bereits umgewandt und verschwand mit zielstrebigen Schritt, aber ohne nötige Hast, im leichten Schneegestöber eines noch frostigen Aprilabends.

    Vitali blieb mit gemischten Gefühlen zurück und kam sich mit einem Mal seltsam ungeschützt und alleine vor. Zögernd fasste er nach seiner Kette und betrachtete lange Zeit das Agnus Dei. Er drückte das seltsam warme Metall gegen seine Stirn und spürte ein leichtes Kribbeln. Erschrocken ließ er das detaillierte, aber dennoch nicht zu pompös gestaltete Schmuckstück wieder unter seine Jacke fallen und massierte sich die betroffene Stelle, doch es war nichts mehr zu spüren.

    Vitali redete sich zaghaft ein, dass er wohl nur ein wenig Schnee oder einen kalten Windhauch auf der Haut gespürt hatte. Dann warf er einen letzten Blick auf die monumentale Kathedrale und machte sich rasch auf den Heimweg.

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  • Freudig rannten die Zuschauermassen aus dem Petrowski-Stadion. Der leichte Nieselregen schien ihnen nicht viel auszumachen, als sie jubelnd über die verkehrsreiche Straße eilten und das ärgerliche Hupen der Autofahrer vernahmen. Mit lauten Schlachtgesängen zogen sie durch die Umgebung.

    Auch Vitali Sergejewitsch Aljenikow verließ das Stadion mit einem zufriedenen Gefühl. Der junge Journalist war erst seit zwei Wochen in der Stadt und war in der Zeit bei einem seiner Kollegen untergekommen, der begeisterter Fan des Vereines Zenit Sankt Petersburg war. Er hatte Vitali mit seiner Euphorie anstecken können und ihm gleich einen Schal geschenkt, während sich Vitali dazu überreden gelassen hatte auf einem der zahlreichen Schwarzmärkte ein Trikot des umjubelten Pawel Progrebnjak zu erwerben. Bei der angestrengten Feilscherei hatte er den Preis von ursprünglich utopisch geforderten fünfhundert Rubeln, auf einhundertfünfzig heruntergehandelt. Auch er verdiente als Journalist nicht gerade ein Spitzengehalt und hatte zudem bisher auch noch keine preiswerte Wohnung in der überteuerten Innenstadt gefunden.

    Das Spiel hatte viele Nerven gekostet, denn der russische Topverein, der zuletzt auch internationale Erfolge gefeiert hatte, hatte den Siegtreffer erst in der Nachspielzeit nach einem Freistoß erzielen können, nachdem der Gegner, der FK Tom Tomsk aus Westsibirien, sogar in der ersten Halbzeit überraschend in Führung gegangen war.

    Jetzt zogen Vitali und sein Kollege Sergej Wiktorowitsch Stepanow gemeinsam mit einigen weiteren Fußballfans an der langsam auftauenden Newa vorbei in Richtung des nahe gelegenen Stadtbezirks, in dem sich viele Kasernen und Militäreinrichtungen befanden. Die Gegend wirkte hier ein wenig trostlos, die Gebäude kahl und grau und die Fußballfans streiften ein Mal eine Gruppe von etwa fünfzig Soldaten, die mitten auf der Straße einen Marsch vollzogen und sich im Gleichschritt bewegen mussten. Sie trugen dabei allesamt noch die altmodischen, graublauen Militärmützen, auf denen das Emblem der russischen Armee als Pin befestigt worden war.

    Bald erreichten Vitali, Sergej und einige weitere Begleiter ihr Ziel, nämlich ein von außen kahl wirkendes Gebäude, das im Innern aber eine durchaus behagliche Atmosphäre barg. Es handelte sich um ein Restaurant, welches ein größeres Esszimmer besaß, dessen Wände aus roten Backsteinen bestanden und auch einen kleinen Kamin aufwies. An den Wänden hingen zum Teil alte sowjetische Propagandaposter und eine Gruppe Soldaten hatte es sich an einem Tisch bequem gemacht. Sie hatten das Fußballspiel neugierig auf einem kleinen, leicht bildgestörten Fernseher verfolgt und tranken kollektiv einen Wodka.

    Vitali und Sergej wurden von der robusten Wirtin mit einer herzlichen Umarmung begrüßt und einem großen Redeschwall. Die eifrige, höfliche und schon etwas ältere Dame, die ein traditionelles Kleid trug und ihre Haare aufgesteckt hatte, bot der Gruppe einen Holztisch mit mehreren Stühlen an und kam nach einigen Minuten bereits mit einigen Gläsern Wodka wieder. Danach gab es eine herzhafte Mahlzeit, die mit einer Borschtsch, der urtypischen russischen Kohlsuppe begann, mit einem russischen Bauernsalat fortgesetzt wurde und mit einer überaus köstlichen Hauptgericht, bestehend aus karelischen Piroggen mit diversen Soßen, seinen Höhepunkt fand.

    Die Soldaten, die alles andere als förmlich oder streng wirkten, setzten sich bald zu Vitali und seinen Bekannten und gaben die ein oder andere Runde Wodka aus und diskutierten angeregt über das Fußballspiel, die Hoffnungen auf den Gewinn der Meisterschaft oder den Bau des neuen Stadions auf dem Gelände des ehemaligen Kirow-Stadions auf der bekannten Krestowski-Insel, der vom Hauptsponsor finanziert wurde und ab der nächsten Saison die neue Spielstätte darstellen sollte.

    Nach einigen Stunden des gemeinsamen Feierns verließen Vitali und Sergej das Restaurant unter lautem Protest der herzlichen Wirtin. Beim Herausgehen warf Vitali einen Blick auf die junge Bedienung und Tochter der Wirtin, die ihm kokett zulächelte. Sie trug eine enganliegende Schürze, die ihre Figur betonte und hatte ihr langes blondes Haar zu zwei edlen Zöpfen geflochten. Grinsend nahm sich Vitali vor bald wieder zurückzukehren.

    Sergej hatte sich entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten beim Feiern sehr beherrscht. Vitali kannte dieses Verhalten bereits aus ihrer gemeinsamen Zeit in Moskau, wo sie eine Journalistenschule besucht hatten und damals in einer Kommune zusammengelebt hatten. Sergej hatte es damals schnell nach Sankt Petersburg verschlagen, wo er ein junges Model kennen gelernt hatte, in der er seine große Liebe gefunden zu haben schien. In Wirklichkeit hatte sie ihn nur ausgenutzt, um selbst Werbung für sich zu machen, denn Sergej hatte selbstverständlich den ein oder anderen Artikel über sie und ihre Arbeit geschrieben. Irgendwann war die junge Russin mit einem reichen Geschäftsmann nach Jekaterinburg durchgebrannt. Sergej war sehr froh gewesen, als er Vitali aufgenommen hatte und sich selbst somit ein wenig von seinem persönlichen Unglück ablenken konnte. Er lebte in einem zentral gelegenem Apartment nahe des Witebsker Bahnhofs und des Obvodnyi-Kanals.

    An diesem Abend aber hatte er geplant sich mit Vitali, der darauf bestand sich eine eigene Behausung zu suchen, um seinen Kollegen nicht weiter zu belasten, eine Wohnung in der Hafengegend anzusehen. Vitali hatte die Annonce zufällig in der Staatlichen Universität Sankt Petersburg, der ersten russischen Universität überhaupt, an der auch Menschen wie Leonhard Euler oder Nikolai Gogol ihr Studium absolviert hatten, gelesen, als er dort ein Interview mit einem Juniorenschachweltmeister geführt hatte.

    Sergej hatte seinen klapprigen Lada nicht unweit des Restaurants geparkt. Der Wagen war nicht verschlossen, denn das gute Stück war so rostig und zerfallen, dass niemand auf die Idee gekommen wäre es zu klauen. Derzeit fehlte Sergej das Geld für einen neuen Wagen, doch er war gewissermaßen auch stolz aufs ein Auto, für das seine Freund meist nur ein müdes Lächeln übrig hatten. Vitali hatte meist ein mulmiges Gefühl, wenn er in diese Klappkiste einstieg und zudem hatte Sergej trotz allem einige Wodka intus.

    Beschwingt stieg sein Kollege ein und ließ den altersschwachen Motor aufheulen. Gut gelaunt schob er eine Kassette der russischen Heavy Metal Legende Aria ein und sang vom ersten Ton an lautstark mit. Bald schlängelte sich Sergej mit einigen waghalsigen Manövern durch den dichten russischen Verkehr, sodass Vitali Angst und Bange wurde. Nach einer fast dreiviertelstündigen Fahrt waren sie nicht nur beim letzten Stück des Albums, sondern auch in der Hafengegend angekommen, die kein Vergleich zur prunkvollen Innenstadt war. Aus den touristischen Regionen waren die Straßenkinder, Bettler und Prostituierten größtenteils vertrieben worden, doch in diesem Außenbezirk zeigte sich das andere Gesicht der russischen Metropole. Während im Zentrum die Straßen sauber und die Menschen gesittet waren, so war hier genau das Gegenteil der Fall. Vitali war insgeheim froh, dass das Apartment noch in einer etwas weniger schmutzigen Region der Hafengegend lag. Aber in seiner Lage und der allgemein misslichen Lage der russischen Wirtschaft gab er sich mittlerweile mit fast allem zufrieden. Seine einst so großen Ambitionen hatte er vorerst auf Eis gelegt. 

    Die beiden erreichten bald den Nowij Nowgorodskij Prospekt, wo die Gebäude noch etwas kleiner, schmuckvoller und stabiler aussahen als in der unmittelbaren Hafenregion. Sergej stellte seinen Lada neben einem Stand mit frischen Blinies, einer eierkuchenähnlichen und sehr vielfältigen Teigspeise mit verschiedensten Füllungen, ab und die beiden Russen gingen auf das dreistöckige Gebäude zu, das sogar kleinere Balkone besaß.

    Nach einem kurzen Klingeln öffnete ihnen eine ältere und etwas kräftigere Dame misstrauisch die Tür. Vitali fiel mit einem Schmunzeln eine gewisse Ähnlichkeit zu der Wirtin auf. Als Vitali sein Anliegen nannte, strahlte die zuvor noch verkniffen wirkende Russin und entfernte freudig die Sicherungskette der Tür und bat die beiden Russen um Einlass.

    Vitali und Sergej wurden von ihr durch eine schmale Tür in das Wohnzimmer der Dame geführt, welches im Erdgeschoss lag, während in den anderen beiden Etagen jeweils zwei Wohnungen lagen. Das Zimmer war voller Kitsch. An einigen Ecken standen Matrjoschkas, die unter Anderem bekannte Politiker, Dichter und Volkshelden darstellten. An fast jeder kleinen Kommode stand ein Behälter mit russischen Süßigkeiten. Bedeckte Tischdecken zierten alle kleinen Tischchen und an den Wänden hingen diverse Bilder der Stadt Sankt Petersburg aus den verschiedensten Epochen.

    Die eifrige Dame, die sich als Ekaterina Alexandrowna Kolodina vorstellte, bat ihren Besuchern sogleich ein Glas Kwas, ein russisches Brotgetränk aus Wasser, Roggen und Malz an, welches eklig süß schmeckte. Ekaterina plauderte unentwegt und es dauerte eine ganze Weile, bis Vitali sein Anliegen präsentieren konnte. Seine neue Gastgeberin war sehr großzügig und ging mit ihrem Preis für die Wohnung noch einmal herunter, weil sie Vitali als sehr herzensgut und nett empfand. Zudem gab sie ihm überraschend bekannt, dass er sogar über ein eignes Telefon und einen kleinen Fernseher verfügen konnte.

    Vitali unterschrieb sofort den Kaufvertrag, was Sergej mit ein wenig Wehmut registrierte, da er sich gefreut hätte, wenn sein Kollege noch ein wenig länger seine Gastfreundschaft genossen hätte. Kurz darauf inspizierte Vitali in Begleitung von Sergej und Ekaterina die neue Wohnung, die links im obersten Stockwerk lag. Es gab dort ein großes Schlaf- und Wohnzimmer mit einem Fernseher, einem großen Himmelbett und einer Couch, sowie ein kleines Badezimmer samt Dusche und Toilette, sowie auch eine kleine Küche mit einem edlen Holztisch und einem kleinen Balkon, von dem aus Vitali einen prächtigen Blick auf die Hafenlandschaft genießen konnte. Lediglich die Farbe an den Wänden war ein wenig abgeblättert und die Decke wies einige gelbe Wasserflecken auf, doch für die gegebenen Umstände hatte Vitali durchaus eine sehr gute Wahl getroffen. Die Zimmer waren sauber, die Preise sehr entgegenkommend und auch die nächsten Metrostationen lagen nicht allzu weit weg.

    Vitali versprach sogleich am nächsten Morgen einzuziehen, da er vorher noch seine wenigen Habseligkeiten aus der Wohnung seines Kollegen verpacken musste. Ekaterina freute sich sehr herzlich und versprach ihm ein ausgezeichnetes Frühstück, wenn er morgen früh kommen sollte.

    Als Vitali das Zimmer als Erster wieder verließ, wäre er beinahe mit einer jungen Dame zusammengestoßen, die mit einigen Büchern bepackt war und offensichtlich die Wohnung neben Vitali bewohnte.

    Vitali warf ihr einen bewundernden Blick zu. Die Frau war ein wenig jünger als er und war vermutlich noch eine Studentin. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als der blondhaarige und schlaksige Vitali, und hatte eine herausragende Figur, die durch ihren Jeansrock und ihr Top noch betont wurde. Ihre graugrünen Augen blitzten verführerisch auf und sie warf dem Russen ein bezauberndes Lächeln zu. Vitali hatte den Eindruck, dass die unbekannte Schöne keine Russin war.

    Er trat auf die Dame zu, was sein Freund Sergej mit einem wissenden Lächeln quittierte. Auch Ekaterina war freudig erregt.

    „Herr Aljenkow, das ist Madame Lavoie, eine junge Französin aus Lille, de hier auf die Schauspielschule im Stadtzentrum geht.“, erläuterte Ekaterina mitteilsam.

    „Sehr erfreut, Madame Lavoie. Darf ich Ihnen vielleicht helfen?“, bot sich Vitali charmant an und wurde belohnt, da die Französin ihm ihren Schlüsselbund reichte, an dem ein silberfarbener Eiffelturm baumelte.

    „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Es wäre nett, wenn Sie mir die Wohnungstür aufschließen könnten, ich bin sehr bepackt.“, bat ihn die Französin, die einen sehr weichen Akzent und eine sehr warme Stimme hatte, von der sich Vitali sogleich angezogen fühlte.

    Eilig erfüllte er die Bitte der schönen Französin und schloss im Handumdrehen ihre Wohnungstür auf, trat einen Schritt in den Flur und verneigte sich einladend, was die schöne Dame mit einem Schmunzeln bemerkte.

    „Sie scheinen ein echter Kavalier zu sein, Herr Aljenkow.“, kommentierte sie mit süffisanter Stimme und warf ihr langes, braunes Haar in den Nacken.

    „Bei so schönen Damen wie Ihnen bin ich das immer. Nennen Sie mich doch Vitali, ich bestehe auf keinerlei Förmlichkeiten.“, bemerkte Viatli mit sanfter Stimme und sein Herz machte einen Hüpfer, als die Französin ihm charmant zulächelte.

    „Das nehme ich gerne an, Vitali. Nenne mich doch bei einem meiner beiden Vornamen. Eva oder Maelle, ganz wie du willst.“, bat ihm die Französin an und trat langsam an Vitali vorbei, wobei sie seinen Oberkörper im Vorbeigehen leicht streifte.

    „Das mache ich gerne. Wohnst du denn schon lange hier?“, fragte Vitali, der das Gespräch um jeden Preis fortsetzen wollte.

    „Seit etwa drei Monaten. Ich bin seit dem Wintersemester in Sankt Petersburg und werde noch bis nächsten Dezember hier sein. Danach kehre ich zurück nach Lille oder Paris, um meine schauspielerische Ausbildung abzuschließen.“, erzählte die Französin, die ihre zahlreichen Bücher zunächst auf einem kleinen Tisch im Eingangsbereich ablegte.

    „Ich bin auch erst seit wenigen Wochen hier in der Stadt. Ich habe vorher in Moskau gelebt und war dort journalistisch tätig. Allerdings ist die Zeitung, für die ich hauptsächlich geschrieben habe, Pleite gegangen. Jetzt versuche ich mein Glück hier und habe über meinen alten Kollegen auch schon ein Engagement gefunden und bereits einige Artikel geschrieben.“, berichtete Vitali ein wenig.

    „Das freut mich für dich. Du kannst mir meine Artikel gerne mal zeigen. Wenn du etwas von russischer Literatur verstehst, kannst du mir vielleicht sogar behilflich sein.“, deutete die Französin an und näherte sich wieder langsam ihrem neuen Nachbarn.

    „Das würde ich gerne tun. Worum geht es denn?“, fragte Vitali, der von seiner Nachbarin völlig gebannt war und sein Glück kaum fassen konnte, mit ihr so schnell ins Gespräch zu kommen. Für den Frauenschwarm war die Tochter aus dem Wirtshaus längst vergessen, denn er hatte selten eine so grazile und umwerfende Schönheit wie die junge Französin gesehen.

    „Es geht um das Theaterstück „Die Nase“ von Nikolai Gogol. Ich muss es durcharbeiten, den Hauptdarsteller charakterisieren und analysieren und zudem will unser Kurs dieses Stück bereits in einigen Monaten aufführen.“, berichtete die Französin und legte ihre Hand scheinbar ganz nebenbei auf den Unterarm des Russen, dessen Härchen sich sofort wie elektrisiert aufstellten.

    „Das trifft sich gut. Gogol ist mein Lieblingsschriftsteller. Ich musste über ihn mal ein ausführliches Referat halten. Ich würde dir gerne helfen und die Aufführung möchte ich mir dann natürlich auch nicht entgehen lassen.“, gab Vitali hastig zurück und strahlte dabei über das ganze Gesicht.

    „Da bin ich gespannt. Jetzt muss ich mich aber ein wenig ausruhen und frisch machen, Herr Nachbar. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.“, entschuldigte sich die Französin und blickte ihrem Gegenüber tief in die Augen.

    „Ja, das hoffe ich auch, ganz bestimmt.“, entgegnete Vitali und verbeugte sich leicht, während die Französin ihm lächelnd die Schlüssel aus der Hand nahm und elegant in ihre Wohnung trat, wo sie sich noch einmal kurz umwandte und dann die Tür sanft ins Schloss drückte.

    Vitali atmete tief beeindruckt durch und wandte sich zu seinem Kollegen Sergej um, der ihn mit einem Lächeln und kopfschüttelnd anblickte.

    Als die beiden Männer die Wohnung nach einer herzlichen Verabschiedung von Ekaterina wieder verließen und auf den lädierten Lada zutraten, musste Sergej noch immer schmunzeln. Vitali wandte sich zufällig noch einmal zum Haus um und zuckte überrascht zusammen, als er die schöne Französin an dem zur Straßenseite hin gelegenen Fenster sah. Sie winkte ihm zu und strahlte dabei über das ganze Gesicht, bevor sie sich abwandte und in einem anderen Raum verschwand. Sergej stieß seinem Freund in die Seite, um dessen Aufmerksamkeit wieder zu erlangen.

    „Kaum bist du zwei Wochen hier und schon gefällt dir die Stadt. Ich hatte es dir doch gesagt, du alter Kavalier.“, lachte Sergej fröhlich und klemmte sich wieder hinter das Steuer und legte gleich darauf die nächste Kassette der russischen Band Aria ein.

    „Da hast du wohl recht. Ich glaube, eine bessere Wohnung hätte ich gar nicht finden könne.“, gab Vitali zurück und die beiden Männer lachten herzhaft, als sie zurück zur Stadtmitte fuhren.

     

    Pawel Iljitsch Kozakow wollte nicht glauben, was er vor sich sah. Er blinzelte, rieb sich die Augen, doch das Bild des Schreckens verschwand nicht. Tausend Gedanken peinigten ihn wie fiese Nadelstiche und ließen ihn an seinem Verstand zweifeln. Der russische Kleinkriminelle war wie gelähmt vor Schreck, denn diese Ereignisse überstiegen seinen Horizont bei Weitem. Er hatte in seiner Karriere viele Leichen gesehen, doch dies war gewiss keine normale Ermordung gewesen.

    In der Mitte des verrauchten, aber verhältnismäßig edel eingerichteten Raumes befand sich ein umgestürzter Tisch und zwei zerborstene Stühle. In einer Blutlache lag ein dunkel gekleideter Mann, der den beiden Kerlen aus dem Schankraum enorm ähnelte. In seinen glasig wirkenden Augen las Kozakow den ganzen Schrecken, den dieser Mann kurz vor seinem bestialischen Tod erlitten haben musste. In seinem Gesicht waren tief Kratzwunden, sein Hemd war völlig zerrissen und seine Schulter war eine einzige blutige Fleischwunde, an welcher der Arm nur noch schlaff und seltsam ungelenk herabhing. Trotz des Hemdes konnte Kozakow die Rippen sehen, die völlig verbogen waren und mit ungeheurer und unmenschlicher Kraft deformiert worden sein mussten. Sie beulten das blutige Hemd aus und befanden sich genau in der Höhe des Herzens.

    Ängstlich und geradezu apathisch ließ Kozakow seinen Blick schweifen und sah auf dem einzigen noch erhaltenen Stuhl eine weitere leblose Gestalt, der die Hälfte des Gesichtes förmlich weggerissen worden war. Das Blut tropfte noch langsam und monoton auf die dreckigen Holzdielen. Glücklicherweise war das Gesicht des Toten dem Blick von Kozakow abgewandt, sodass ihm die schlimmsten Details erspart blieben. Auch dieser Tote trug die gleiche Kleidung wie der erste und die beiden pokernden Bewacher aus dem Schankraum.

    Jetzt warf Kozakow, in einer Mischung aus Ekel und ungläubiger Faszination, auch einen Blick auf den Mittelsmann, den er hier hätte treffen sollen. Er war ein wenig edler gekleidet als die anderen Männer, trug ein dunkles Jackett mit weinroter Krawatte und hatte sein langes Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden. Er lag auf einer lederbezogenen Couch. In der Höhe seines Magens befand sich eine klaffende Fleischwunde, aus der immer noch Blut strömte und Kozakow konnte sogar schon die Ansätze der Gedärme erkennen, die der wahnsinnige Täter mit unbeschreiblicher Wut aus dem Kriminellen herausgerissen haben musste.

    Kozakow wurde mit einem Mal schlecht, das Gefühl der Übelkeit schlug blitzartig in ihm hoch und weckte ihn gleichzeitig aus seiner stummen Apathie. Er konnte die Ereignisse nicht einordnen und kannte nur noch einen Gedanken. Er musste sofort von hier verschwinden!

    Nervös warf er sich herum und trat dabei noch in die riesige Blutlache, die über die dreckigen Dielen floss. Gehetzt warf Kozakow einen Blick in den Gang. Er wollte auf keinen Fall mit dieser abscheulichen Tat in Verbindung gebracht werden.

    Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür des Raumes, in dem sich ein Mann vorhin noch mit einigen leicht bekleideten Mädchen vergnügt hatte. Eines dieser Mädchen, eine zierliche, asiatische Schönheit, trat just in diesem Moment aus dem ersten Raum, erblickte Kozakow und ahnte sofort, dass etwas nicht stimmte, als sie den wahnsinnigen Blick des Russen sah. Schreiend ließ die Prostituierte das blütenweiße Handtuch fallen, mit dem sie ihren Oberkörper bedeckt hatte und eilte gehetzt zurück in den Raum.

    Kozakow griff instinktiv nach seinem Revolver und erneut fiel ihm ein, dass er selbigen beim Türsteher verloren hatte. Plötzlich kamen ihm beklemmende, schreckliche Gedanken. Was wäre, wenn der unbekannte Täter noch irgendwo im Haus lauern könnte? Den Opfern nach zu urteilen, waren diese noch nicht sehr lange tot. Wie sollte er sich überhaupt verteidigen können? Wann würde dieser Alptraum für ihn enden? Hatte er sich die beobachtenden Blicke also doch nicht nur eingebildet? Würde er als Entdecker der grausigen Tat das nächste Opfer des Wahnsinnigen werden?

    Wie in Trance warf sich Kozakow herum und hetzte in blinder Angst durch den schmalen Gang. Dabei stieß er gegen einen Bilderrahmen an der Wand, der klirrend zu Boden fiel und in tausend Scherben zerbarst. Kozakow störte sich nicht daran, warf aber gehetzte Blicke über seine Schultern und stieß durch diese Unachtsamkeit schmerzhaft gegen ein kleines Tischchen, dass scheppernd umfiel und ihm den Weg versperrte.

    Nervös sprang Kozakow darüber hinweg, blieb am Tischbein hängen und fiel der Länge nach hin. Benommen rappelte er sich auf, hetzte schweißüberströmt weiter und erreichte mit letzter Kraft die Hintertür, die er aufreißen wollte, um endlich ins Freie zu gelangen.

    Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm. Die Tür war verschlossen! Heftig rüttelte der russische Kleinkriminelle an dem Knauf, zog daran, drehte ihn zur Seite und schlug wutentbrannt dagegen, doch all dies änderte nichts an der Ausweglosigkeit seiner Situation.

    In diesem Moment ging die Tür zur Theke auf und die beiden Männer, die kurz zuvor noch gepokert hatten, stürmten in den Flur. Sie erblickten Kozakow, hoben drohend ihre Revolver und stürmten geduckt heran, da sie für einen präzisen Schuss noch ein wenig zu weit entfernt waren.

    Kozakow brach in Panik aus, warf sich wuchtig gegen die verschlossene Tür und spürte, wie diese leicht wackelte, aber noch nicht nachgab. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Gehetzt warf er sich nochmals gegen die Tür, die nun ächzte, seinem Angriff aber weiterhin standhielt.

    Die beiden Killer kamen immer näher und riefen Kozakow eine Warnung zu, die dieser überhaupt nicht wahrnahm. Zitternd sah er sich nach einer anderen Fluchtmöglichkeit, einer weiteren Tür oder einem Fenster um, doch es gab keinen anderen Ausweg.

    In dem Moment schlug eine Kugel direkt vor seinen Füßen ein und eine weitere sirrte knapp an ihm vorbei in die Tür hinein. Kozakow wurde davon aber nicht gestoppt, sondern reagierte noch panischer und unkontrollierter. Er rannte einige Schritte zurück in den Gang, nahm Anlauf und warf sich mit voller Wucht und letzter Kraft gegen die Tür.

    In diesen Augenblicken hatte er gleich doppeltes Glück. Zum Einen ging just in dem Moment die Tür auf, hinter der eben noch einige Russen das Fußballspiel verfolgt hatten und ein älterer und offensichtlich betrunkener Russe mit einem gewaltigen Bart trat genau in die Schusslinie der beiden Killer, die ihn grob zur Seite stießen, durch diese Aktion aber sowohl Zeit verloren, als auch irritiert wurden. Zum Anderen gab die Tür unter den Bemühungen des Kleinkriminellen endlich nach und brach unter ihm krachend zusammen.

    Hart fiel Kozakow auf eine Treppenstufe im Hinterhof, stieß sich den Kopf am Geländer und sah seine Umgebung um sich herum nur noch verschwommen und verzerrt, während er selbst die Stufen herunterpurzelte und benommen in einige Glasscherben rollte, die am Boden lagen und ihm den Rücken aufschnitten.

    Diese unverhoffte Verletzung belebte noch einmal seine letzten Kräfte und riss ihn zurück in die Realität. Ein Schuss peitschte an ihm vorbei und verlor sich in der dunklen Nacht. Kozakow rannte blind durch den Hof, umkurvte einige überfüllte und stinkende Mülltonnen und erreichte schließlich ein hohes Gitter, an dem er hochsprang, das Ende zu greifen bekam und sich mit seinen letzten Kraftreserven hochzog. Nun machte sich seine harte Schulung doch noch bezahlt.

    Kraftlos ließ Kozakow sich auf der anderen Seite des Gitters zu Boden fallen, robbte in die dunkle Gasse, die fast gar nicht beleuchtet war und verlor seinen kompletten Orientierungssinn.

    An seinen eigentlichen Auftrag und eine mögliche Bestrafung seines Bosses dachte er gar nicht mehr. Er rannte wie in Trance planlos durch die dunklen Gassen.

    Er hörte aus der Ferne noch einige Schüsse, bog in eine Seitengasse ab und danach in eine noch düstere Sackgasse, wo er sich gegen eine ramponierte Straßenlaterne lehnte, zu Boden sank und sich geräuschvoll übergab. Der ganze Druck und seine ganze Nervosität entluden sich und beruhigten ihn zugleich.

    Kozakow hielt inne und lauschte seinem eigenen, rasselnden Atem. Er beruhigte seinen Puls und verharrte. Von seinen Verfolgern war nichts zu sehen oder zu hören. Der Russe lächelte gequält. Sollte er ihnen doch entwischt sein? War er tatsächlich mit seinem Leben davongekommen?

    Nervös rappelte sich der Kleinkriminelle auf, als sich seine Nackenhaare aufrichteten und er urplötzlich ein flaues Gefühl im Magen bekam. Dieses unheimliche Gefühl beobachtet zu werden war mit einem Mal wieder da. Der Russe wandte sich langsam um und blickte angestrengt ihn die düstere Gasse, als er plötzlich den unheilvollen Schatten über sich sah.

    Erschrocken blickte Kozakow in die Höhe und sah nur noch wie der Schatten vom flachen Dach sprang und brutal gegen seine Schulter prallte. Der Russe wollte sich zur Seite rollen und flüchten, doch seine Aktionen waren zu langsam.

    Er schrie gellend auf, als sich scharfe Zähne in sein Bein bohrten und zurück zu Boden zerrten. Glühend heiß lief das Blut aus der Wunde und trieb ihm die Tränen ins Gesicht. Wimmernd sank Kozakow in sich zusammen und spürte den harten Schlag von hinten gegen seinen Brustkorb, der ihm fast die Besinnung raubte.

    Mit letzter Kraft wandte sich Kozakow um, weil er das Antlitz seines Mörders erkennen wollte. Erschrocken blickte er aus tränenverschleierten Augen in eine deformierte Fratze einer unbeschreiblichen Kreatur, die geradewegs aus der Hölle zu kommen schien. Das undefinierbare Wesen lachte mit fast menschlichen Zügen, bevor das Ungetüm sein Maul aufriss und eine Reihe weißer, spitzer Zähne entblößte, die sich erbarmungslos in den Hals seines vierten Opfers bohrten, dessen Leben in diesen Sekunden ein brutales und menschenunwürdiges Ende fand.

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  • Aljenikow und der Hafen des namenlosen Grauens


    Von Sebastian Kluth

     

    (Band 1)

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    In der im letzten Jahr erst eröffneten neuen Metrostation Volkovskaya, die sehr modern und fast klinisch elegant wirkte, fielen die beiden Männer mit ihren scharlachroten Umhängen und dem darauf gestickten Abbild eines Kolkrabens irgendwie aus dem Rahmen, obwohl sie sich in eine möglichst dunkle Ecke gedrückt hatten, denn sie hatten wenig Zeit und wollten doch einige wichtige Informationen austauschen.

    Von den Touristen und den zahlreichen anderen Pendlern wurden sie kaum beachtet, denn auffällig gekleidete, schräge Typen waren im modernen Sankt Petersburg nichts Ungewöhnliches. Doch einem genauen Beobachter hätten die düsteren Mienen der beiden Geheimniskrämer auffallen müssen, die eine unglaubliche negative Ausstrahlung hatten. Ihre düsteren Fratzen waren tief in den Schatten der Kapuzen verborgen und sie sprachen leise und mit rauchigen Stimmen.

    Der erste der beiden Männer, der ein wenig älter und höher gewachsen war als sein Gegenüber, ergriff zuerst das Wort und seine Augen funkelten bei jedem seiner fanatischen Worte.

    „Bald, mein Bruder, ist der Moment gekommen. Unsere Zeit ist nah. Ein Armageddon wird über diese verfallene Stadt kommen, wie die Menschheit es noch nie zuvor erlebt hat. Es werden neue Strukturen und neue Machtverhältnisse herrschen und wir werden als Sieger aus dieser Schlacht hervorgehen“, hauchte der ältere Mann und zitterte dabei vor freudiger Erregung.

    „Davon bin auch ich überzeugt, Bruder. Wer sollte sich uns in den Weg stellen? Der Sturm wird über die Ahnungslosen kommen und gnadenlos über sie hinwegfegen. Kaum jemand weiß von uns, außer die armseligen Mönche aus dem Kloster bei Pobeda und einigen Mafiosi. Wer würde einigen altmodischen Greisen oder einer Bande räudiger Krimineller schon vertrauen?“, fragte der jüngere und kleinere Bruder voller Erregung.

    „Gewiss hast du recht, doch es ist trotzdem immer noch erhöhte Vorsicht geboten. Wir können nicht einfach von einem Tag auf den anderen alles auf eine Karte setzen. Wir müssen langsam beginnen, feine Nadelstiche setzen. Unser neuer Gefolgsmann wird uns dabei helfen und den ersten Schritt allein wagen.“, erläuterte der ältere Bruder und hob mahnend seine knochige Hand.

    „Dieser neue Gefolgsmann ist ein Narr, ein rachsüchtiger Unwissender, der durch Zufall zu uns gestoßen ist. Er ist unserer Mission gar nicht würdig.“, gab der jüngere und deutlich emotionalere Bruder gehässig zurück und hatte seine Hände unter der scharlachroten Kutte grimmig zu knochigen Fäusten geballt.

    „So darfst du nicht denken, Bruder. Es ist besser, wenn er die ersten Schritte wagt und ein Risiko eingeht. Er ist bis unter die Haarwurzeln motiviert, wenn auch aus persönlicheren Gründen. Wenn er Erfolg hat, dann steht auch uns der Weg frei und wir können größere Pläne konzipieren. Wenn er aber scheitert, so kann niemand seine Spur zu uns zurückverfolgen und wir könnten seine Fehler analysieren und würden auch auf unsere primären Feindobjekte stoßen, die unseren Gefolgsmann zum Scheitern gebracht haben. Er ist sozusagen unser Versuchskaninchen: Entweder endet er als Toter oder als Held einer neuen Revolution.“, schloss der ältere Bruder mit pathetischen Worten und setzte sich langsam wieder in Bewegung, um mit seinem Begleiter die schier endlos lange Rolltreppe hinauf zum Tageslicht zu nehmen, das von schweren Wolkenvorhängen jedoch deutlich abgeschwächt wurde. Den beiden Brüdern war dies nur recht, denn sie verabscheuten helles Licht, ebenso wie die grelle Hektik der Metropole allgemein. Doch für ihr großes Ziel mussten sie aus ihren Unterschlüpfen kommen und über ihren eigenen Schatten springen.

    „Wir sollen also zunächst nur abwarten und observieren?“, hakte der kleinere Bruder ein wenig enttäuscht und empört nach.

    „Du hast es erfasst, Bruder. Wir werden das alles bei unseren Treffen bei Pulkovo besprechen. Noch heute kann die erste Etappe unserer Mission beginnen und in wenigen Tagen werden wir schlauer sein. Eines ist sicher: Die Wochen der Entscheidung sind jetzt endgültig gekommen.“, behauptete der ältere Bruder und erschauderte bei seinen eigenen Worten.

    Der jüngere Bruder nickte ehrfürchtig und spürte ein elektrisierendes Kribbeln in sich. Das Gefühl, das auf nicht unangenehme Weise freudige Erwartung mit nagender Nervosität vereinte, hielt auch dann noch an, als sie beide an das matte Tageslicht kamen.

    Sie zogen sich ihre Kapuzen noch tiefer ins Gesicht, tauchten in der unübersichtlichen Menge wie zwei Überbleibsel aus vergangenen Tagen und alten unbekannten Traditionen unter und setzten ihre kurze Reise wortlos, aber zielstrebig und konzentriert fort.

     

    Pawel Iljitsch Kozakow warf seine übel riechende Zigarette in das brackige Hafenbecken und blickte auf seine gefälschte Rolex. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn und schaute durch den dichten Nebel angestrengt zu der schäbigen Kneipe herüber, aus der altmodische Musik und das Grölen betrunkener Männer drang.

    Dann setzte er sich langsam in Bewegung und blickte sich nervös um. Er wollte sicher gehen, dass ihn niemand verfolgte. Er hatte das Gefühl, dass durch den undurchdringlichen Nebel ihn irgendjemand beobachtete. Er spürte förmlich die drohenden Blicke des Unbekannten auf sich, der irgendwo in einer der dunklen und nassen Gassen lauern musste. Mehr als einmal zuckte Kozakow herum und tastete nervös nach seinem Revolver, den er an einem Gurt unter seinem ausladenden und löchrigen Pullover versteckt hielt.

    Hin und wieder glaubte er ein Knarren, ein überlautes Quietschen oder Gelächter zu hören, das aus irgendwelchen Spelunken drang. Das träge Wasser schwappte monoton gegen die Kaimauern, irgendwo kreischte eine der zahlreichen Möwen.

    Unbehaglich verschränkte Kozakow seine Arme und ein eiskaltes Schaudern rann über seinen Rücken. Er bekam unwillkürlich eine Gänsehaut und seine Nackenhaare richteten sich auf. Er wusste selbst, dass diese Reaktion nicht nur etwas mit der schneidenden Kälte zu tun hatte, die Anfang April immer noch über Sankt Petersburg lag.

    Er verfluchte sich selbst, dass er so geldgierig gewesen war und den Auftrag akzeptiert hatte, den ihm sein Boss gegeben hatte. Fünfhundert Rubel waren eine Menge Geld für jemanden wie ihn, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammte und in einer siebenköpfigen Familie in einem der unvorteilhaftesten Vororte der Stadt aufgewachsen war. Er hatte nie irgendwelche Zukunftschancen gehabt, bis er seinen jetzigen Boss zufällig auf einem touristischen Schwarzmarkt hinter der prächtigen Auferstehungskirche im Stadtzentrum kennen gelernt hatte. Seit drei Jahren verrichtete der junge Kozakow nun schon illegale Arbeiten für einen der größten Unterweltbosse der prächtigen russischen Metropole. Er hatte sich mehr als einmal in einem schäbigen und dreckigen Gefängnis wiedergefunden, doch sein Boss hielt an ihm fest und hatte ihn problemlos freigekauft. Die russischen Polizisten waren oft bestechlich und zudem hatte sein Boss auch einige Beamten auf seine Seite ziehen können. Sein Netz war immer größer geworden und er beherrschte besonders das Stadtzentrum, wo er viele illegale Spielsalons und sexuelle Etablissements als Schutzpatron unter seine Knute gezwungen hatte. Auch im Drogengeschäft war er schon lange involviert.

    Dennoch gab es für ihn zwei weitere große Konkurrenten. Der eine Typ hatte es geschafft bislang weitestgehend anonym zu bleiben. Man munkelte, dass er früher in Nowgorod der Herr der Unterwelt gewesen war, bis er nach höheren Zielen streben wollte und nach Sankt Petersburg gekommen war. Seine wahre Identität kannte man nicht genau. Man wusste nur, dass er bereits als Kind einen schweren Autounfall erlitten hatte und schwere Brandwunden höchsten Grades davongetragen hatte. Seitdem trug er eine stählerne Maske, sodass kaum jemand sein Gesicht kannte. So war auch sein Spitzname, denn alle nannten ihn nur ehrfürchtig die „stählerne Maske“. Er hatte seine Finger besonders in den Außenbezirken der Großstadt im Spiel, sowie auch in diversen Restaurants und Diskotheken.

    Dann gab es noch den letzten Boss, der ungekrönter König der Hafengegend war. Praktisch jede Spelunke hier gehörte ihm und jede Schiffsladung wurde von seinen Mittelmännern überprüft oder auch schon mal auf hoher See erbeutet. Sein Name war Kostja Anatoljewitsch Matschiwjenko und er war für seine ungeheure Brutalität weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt, doch die Polizei hatte ihm bislang niemals etwas nachweisen können.

    Kozakow hatte nun den Auftrag entgegengenommen, ein Geschäft mit der rechten Hand des brutalen Unterweltbosses Matschiwjenko abzuwickeln. Es ging dabei um eine Schiffsladung Kokain, die sein Boss dem brutalen Patron der Hafengegend abkaufen wollte und im Gegenzug wollte er jenem kaltblütigen Mann sogar nicht unbeträchtliche Anteile am Erwerb in der Region der Petrogradskaja Storona verleihen.

    Kozakow sollte sich in der Spelunke mit der rechten Hand Matschiwjenkos treffen und die Details klären. Er hatte dennoch das ungute Gefühl, dass es sich bei dem Treffen um einen Hinterhalt handeln könnte. Kozakow war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass Matschiwjenko alles andere als vertrauenswürdig und ehrlich war. Der einflussreiche Russe galt als hinterhältiger und abgebrühter Taktiker, der niemals freiwillig etwas aufgeben oder tauschen würde. Nicht einmal eine Schiffsladung Kokain.

    Kozakow atmete tief durch und schritt durch die schwach beleuchtete Gasse und durch die verdreckten Pfützen. Eine Horde Ratten verflüchtigte sich aus einem der zahlreichen stinkenden Müllhorden am Rand der Gosse. Die Gasse hatte einen sehr eigentümlichen Geruch, in dem sich stinkender Zigarettentabak, Exkremente und das billige Parfüm leichter Mädchen miteinander vermischte.

    Kozakow hörte das höhnische Kreischen der Möwen, die über den Hafen kreisten, als er den Eingang der Spelunke erreichte. Eine zerfallene Leuchtreklame erhellte den dreckigen Straßenbelag. Ein kräftiger Türsteher, muskelbepackt und mit grimmigen Blick baute sich vor dem hageren Kozakow auf und blickte ihn eiskalt an.

    Der junge Kriminelle brach in Schweiß aus und sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel. Er überlegte, ob er sich nicht einfach umdrehen und davonlaufen sollte. Er verwarf den Gedanken allerdings gleich wieder, denn solch einen feigen Rückzug würde ihm sein Boss niemals verzeihen. Er war sich bewusst, dass eine mögliche Bestrafung seines Bosses weitaus schmerzhafter und schlimmer sein konnte, als eine Kneipenschlägerei oder Schießerei auf offener Straße. Einer seiner ehemals besten Freunde, hatte einmal einen Auftrag vermasselt und hatte dadurch sein linkes Ohr verloren, das ihm ohne Betäubung brutal abgeschnitten worden war. Seitdem lief er als gezeichneter Krüppel herum, war ausgestoßen worden und lebte irgendwo in einem der schmuddeligen Vororte auf der Straße und schlief im Winter in einer der zahlreichen Metrostationen.

    Kozakow riss sich zusammen und nestelte in seiner Jackentasche, aus der er ein paar Rubel nahm. Er drückte die zerknitterten Scheine in die Hand des mächtigen Türstehers, dessen Gesicht sich sichtbar aufhellte. Erleichtert drängte sich Kozakow an ihm vorbei und wurde plötzlich grob an der Schulter gepackt. Brutal presste der Türsteher den schmächtigen Mittelsmann gegen den Türrahmen und drückte ihn am Kragen langsam in die Höhe. Ächzend versuche sich Kozakow aus der eisernen Umklammerung zu befreien, doch er war gegen dieses Muskelpaket eindeutig machtlos. Sein Gesicht verfärbte sich rot, als der Türsteher ihm an den Hals griff und grob zudrückte. Die Luft wurde dem röchelnden Kozakow langsam, aber sicher knapp.

    Der grobe Türsteher nestelte in den Hosentaschen des Kuriers und fand einige weitere Rubelscheine, die er grimmig einsteckte. Auch vor dem Revolver machte der stumme Türsteher nicht halt und riss seinem Gegner den Gürtel brutal vom Leib, nahm ihn in die Hand, zog den schweren Revolver heraus und schleuderte den Gürtel achtlos in eine der brackigen Pfützen. Zufrieden brummend steckte er sich die Waffe in seine Gesäßtasche und ließ seinen Gegner achtlos zu Boden fallen.

    Brutal prallte Kozakow auf die harten Holzdielen und schnappte ächzend nach Luft. Alles drehte sich vor seinen Augen und er sank schwitzend am Türrahmen nieder. Der Türsteher würdigte ihn indes keines Blickes mehr und kramte stattdessen einen Flachmann aus seiner Hemdtasche, den er mit einem Schluck leerte.

    Kozakow robbte langsam in den Vorraum der Kneipe und stützte sich an einem schmalen Tresen auf, hinter dem einige Kleiderbügel hingen. Davor saß ein künstlich blondiertes, junges Mädchen, das sich definitiv zu sehr geschminkt hatte. In ihrem kirschroter Mund lag eine billige Zigarette, die Packung, auf der ein Wolfskopf abgebildet war, hielt sie in ihrer Hand mit den viel zu langen, künstlich glitzernden Fingernägeln. Verächtlich blickte sie Kozakow an und spuckte zu Boden.

    Der gedemütigte Russe verfiel in Panik, rappelte sich auf und hastete durch die schief in den Angeln hängende Tür in den Schankraum. Dort umfing ihn ein muffiger Geruch nach Bier und Zigaretten. Auf einer kleinen Bühne tanzten zwei langbeinige, knapp bekleidete Schönheiten, die von verschwitzten und johlenden Männern angetrieben wurden. In der anderen Ecke saßen zwei dunkel gekleidete Männer, die Kozakow forsch anblickten und pokerten. Der Russe wusste sofort, dass diese beiden Männer zu der Gruppierung um Matschiwjenko gehörten, denn sie waren beide an ihren Unterarmen tätowiert, was stilistisch für die Anhänger dieses Mannes waren. Die Tätowierung zeigte das berühmte Symbol des Hammers und der Sichel, umkreist von einem schwarzen Totenschädel.

    Kozakow zündete sich nervös eine weitere Zigarette an und näherte sich den beiden lässigen, aber dennoch aufmerksamen Kriminellen mit großer Unbehaglichkeit. Langsam trat er an sie heran und zog seinen dunklen Pullover an seinem linken Ärmel ein wenig hoch. Dort befand sich das typische Symbol seines Bosses, welches nur enge Mitarbeiter und langjährige Kuriere bekamen. Kozakow war sehr stolz gewesen, als er sich dieses Symbol vor nicht einmal zwei Monaten hatte stechen lassen, nachdem er mit zwei weiteren Ganoven zwei kleinere Hotels der namenlosen „stählernen Maske“ durch Brandanschläge erfolgreich vernichtet und dabei sogar dessen Adoptivsohn ermordet hatte. Die Tätowierung zeigte eine doppelköpfigen Adler, der von einem gezackten Stern umgeben war.

    Die beiden Kerle nickten grimmig und wiesen wortlos auf eine zerbeulte Holztür hinter dem Tresen. Kozakow nickte erleichtert und eilte auf den angegebenen Ort zu. Der Wirt, ein dickerer Mann mit einem großen, geschwungenen, grauen Schnurrbart zeigte ihm per Handzeichen die Zahl vier an. Kozakow verstand die Geste, drückte die Tür auf und fand sich in einem verrauchten, alten Flur wieder, der nur sehr schwach beleuchtet war.

    Langsam ging er an einer löchrigen Tür vorbei, auf der die Zahl eins stand. Er hörte ein erregtes Stöhnen und ein vulgäres Fluchen eines offenbar angetrunkenen Mannes. Kozakow war dies ganz egal. Er stand unter einer ungeheuren Anspannung und wollte den Auftrag, der für ihn so ungemütlich begonnen hatte, so schnell wie möglich ausführen und dann verschwinden. Nervös tastete er nach seiner Waffe, als ihm siedend heiß einfiel, dass er diese gar nicht mehr besaß. Ihm brach der Schweiß aus, seine Schritte wurden zögerlicher und er spürte einen leichten Schwindel in sich aufsteigen.

    Kozakow passierte die zweite Tür, die auf der rechten Seite lag. Sie war sogar noch löchriger und morscher als die erste. Ein ganz seltsamer Geruch schlug Kozakow entgegen, der sein Unwohlsein noch verstärkte. Angewidert ging er an der Tür vorbei und hielt die Luft an. Er fragte sich, welch ekelhaftes Kraut die Leute in dem Zimmer wohl geraucht haben mussten.

    Die dritte Tür war ein wenig robuster und Kozakow hörte einen Fernseher aus dem Raum, der offenbar ein Fußballspiel zu übertragen schien. Einige Männer grölten vergnügt und er bemerkte den Geruch von Schweiß.

    Endlich kam Kozakow zur vierten und letzten Tür in dem Flur, der auf den Hinterausgang mündete. Die Tür war sehr robust und offenbar erst kürzlich neu eingefügt worden. Auch hier schlug ihm ein süßlicher Geruch entgegen, den er nicht wirklich einordnen konnte. Mit rasselndem Atem lehnte er seinen Kopf gegen das solide Holz, in der Hoffnung irgendetwas zu hören, doch in dem Raum schien es vollkommen still zu sein.

    Kozakow bekreuzigte sich rasch und klopfte nervös an die Tür. Er wartete auf eine Antwort, doch nichts geschah. Nach einigen Sekunden nervösen Wartens klopfte der Russe erneut gegen die solide Holztür und trat ungeduldig auf der Stelle. Auch dieses Mal kam keine Reaktion und der ohnehin schon nervöse Russe bekam ein drückendes Gefühl in der Magengegend. Ängstlich blickte er sich im Gang um, denn er hatte wieder das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Er konnte die grausamen Blicke förmlich spüren, doch er traute sich auch nicht sich den düsteren Nischen zu nähern, die in der Nähe des Hintereingangs lagen. Stattdessen klopfte Kozakow erneut gegen die Tür, dieses Mal noch heftiger, gehetzter.

    Schließlich hielt er der Belastung nicht mehr stand und verlor die Beherrschung. Grob drückte er die schmiedeiserne Klinke herab und stieß die Tür mit einem heftigen Ruck in den Raum. Schweißgebadet taumelte er vorwärts und hielt inne, als sei er vom Blitz getroffen worden.

    Was er in dem dunklen Raum sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln und gleichzeitig das Blut in den Adern gerinnen. 

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  • Hallo liebe Leserinnen und Leser!

    Da ich meine Weihnachtsferien in Deutschland verbringen werde und dort nicht unbedingt Zugriff auf die Endfassung meines Romans habe, traf ich gerade die Entscheidung wieder drei neue Kapitel meines Werkes hier exklusiv zu veröffentlichen, die den drei Wochen entsprechen, die ich in etwa in Deutschland verbringen werde.

    Allerdings habe ich in Deutschland hingegen Zugriff auf diverse andere Dokumente, die ich hier unterbringen möchte: alte Bücher, alte Zeitungsartikel und vieles mehr!

    Auf diesem Wege möchte ich dann auch noch allen Leserinnen und Lesern meines Blogs ganz herzlich frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen.

    Jetzt werde ich hingegen wieder in die Welt der Geschichte des Saguenay-Lac-Saint-Jeans eintauchen, denn für diesen Kurs stehen noch Dissertation und Examen auf dem Programm. Dann ist es aber endlich geschafft und ich habe mir ein wenig Erholung verdient.

    Gehabt euch wohl und bis bald!

     

    Euer Sebastian Kluth

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    Kapitel 20: Mittwoch, 22 Uhr 53, Malcolms Zimmer


    Das Nächste, was Thomas mitbekam, war wie ihm jemand an seiner Schulter rüttelte und zu ihm sprach. Wie durch einen Schleier hindurch sah er einen dunklen Schatten, der sich über ihn legte. Er wusste zunächst nicht mehr, wo er war und vor allem nicht, was überhaupt geschehen war. Sein Kopf schmerzte gewaltig, alles um ihn herum drehte sich in monotonen Spiralen und er hatte das Gefühl zu fallen. Ein plötzliches Übelkeitsgefühl stieg in ihm auf und er musste laut aufstöhnen. Immerhin hatte das seltsame Drehen aufgehört und die Kopfschmerzen waren geringer geworden. Stattdessen fühlte er eine gewisse Müdigkeit und erinnerte sich bruchstückhaft an die Dinge, die vor seiner Bewusstlosigkeit geschehen waren. Er sah sich auf dem Boden knien, mit einem Brief in der Hand, er sah wie sich eine Gestalt näherte und auf ihn einschlug. Er erinnerte sich an das Becherglas, das ihn an der Schläfe getroffen hatte und an den schwarzen Umhang, den die Person getragen hatte. Das Gesicht des Phantoms war in seiner Erinnerung nichts als eine formlose und unendliche Schwärze. Wer konnte diese Person bloß gewesen sein?

    Thomas konzentrierte sich auf die Person, die ihm nun die Wangen tätschelte und auf ihn einredete. Er brauchte einen Moment, bis er wieder genau wusste, wo er sich exakt befand und nach einiger Zeit des Überlegens fiel ihm sogar der Name der Person ein, die sich besorgt um ihn kümmerte. Mit schwacher und brüchiger Stimme hauchte er den Namen seines Gegenübers.

    „Mamadou Kharissimi?“

    Der Afrikaner lächelte erleichtert und hielt Thomas seine Hand hin. Vorsichtig und behutsam half er diesem beim Aufstehen, als das Schwindelgefühl des Schotten wieder einsetzte. Erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen und schloss für eine Minute die Augen. Mamadou ließ ihn gewähren und Thomas hatte sich nach der dringlichst benötigten Ruhepause wieder ein wenig gefangen.

    Er öffnete die Augen und der Schleier war endgültig verschwunden. Er betastete missmutig seinen Kopf und fand dort zwei Beulen, eine relativ große am oberen Hinterkopf, die andere an der Schläfe, knapp oberhalb seines linken Auges. Die Blessuren schmerzten, doch er schien wohl noch unter einer Mischung aus Schock und Adrenalinschub zu stehen, sodass er die Schmerzen kaum merkte. Somit konnte der brutale Überfall auch nicht sehr lange zurückliegen. Thomas blickte bestätigend auf seine Armbanduhr und bemerkte, dass er gerade einmal zehn Minuten bewusstlos gewesen war.

    Mit großem Unbehagen dachte Thomas bereits an den nächsten Morgen und seine schmerzhaften Folgen.

    Langsam wandte der junge Schotte sich Mamadou zu, der nachdenklich neben ihm saß und ihn besorgt musterte. Thomas lächelte ihm zögerlich zu.

    „Was ist passiert?“, fragte der Schotte leise.

    „Ich schlafe im Nebenzimmer und habe einen großen Lärm gehört. Ich war gerade dabei einzuschlafen, bin hochgeschreckt und habe mich rasch angezogen. Als ich auf den Flur getreten bin, sah ich eine vermummte Gestalt, die auf die Treppen zulief und ich habe sie verfolgt.“, berichtete der eifrige Afrikaner.

    „Hast du dieses Phantom etwa erwischt?“, fragte Thomas, der mit einem Mal hellhörig geworden war und aus seiner Lethargie erwachte.

    „Leider nicht. Ich konnte die Person noch bis in das Kellergewölbe verfolgen. Dort habe ich sie dann verloren. Ich habe noch einige Minuten gesucht, aber es war erfolglos. Ich bin hierhin zurückgekehrt und habe dich auf dem Boden gefunden.“, erklärte Mamadou und schüttelte missmutig den Kopf.

    „Ich habe den getürkten Brief gefunden. Der Brief, der angeblich von Jeanette war. Malcolm hatte gesagt, dass er von Jeanette eine Art Brief bekommen habe, zusammen mit dem schottischen Nationaltrikot, beides als eine Art Versöhnungsgeschenk und Liebeserklärung. Ich habe mit Jeanette allerdings eben noch gesprochen und sie hat mir geschworen, dass die Sachen nicht von ihr stammen. Da ich mir dachte, dass der Brief ein wichtiges Beweisstück sein könnte, wollte ich das Zimmer des Toten untersuchten. Den Brief habe ich tatsächlich gefunden, bevor mich jemand niedergeschlagen hat.“, erklärte Thomas nun seinerseits.

    „Was stand darin?“, fragte Mamadou aufmerksam.

    „Ich konnte mir nicht alles durchlesen. Der Brief war mit Jeanettes Namen unterschrieben worden. Er war zudem mit einem Füller geschrieben und die Schrift sah ihrer sehr ähnlich. Ich könnte fast schwören, dass sie ihn selbst geschrieben hat.“, bemerkte Thomas nachdenklich.

    „Die Sache wird immer unheimlicher. Meinst du nicht, dass Jeanette den Brief tatsächlich selbst geschrieben haben könnte und dich eben niedergeschlagen hat?“, fragte Mamadou.

    „Unmöglich. Ich habe gesehen, wie sie auf ihr Zimmer gegangen ist. Sie war völlig fertig und aufgelöst und hätte es in den wenigen Minuten nicht geschafft sich unbemerkt in dieses Zimmer zu schleichen, eine Waffe zu besorgen und mich so brutal niederzuschlagen. Irgendjemand will ihr etwas in die Schuhe schieben und das Leben schwer machen.“, vermutete Thomas und ballte seine Hände entrüstet zu Fäusten zusammen.

    „Es hätte mich auch gewundert, wenn sie sich mit Malcolm vertragen hätte. Der Täter scheint aber ein sehr aufmerksamer Beobachter zu sein. Er wusste von den Streitereien, er kennt sich perfekt im Schloss aus und er verfügt über die nötige Kaltblütigkeit.“, resümierte Mamadou.

    Thomas nickte stumm. Ihm waren ähnliche Dinge aufgefallen, doch er fragte sich nach dem Motiv. Für ihn lag noch einiges im Unklaren.

     „Die Person hat drei Mal zugeschlagen. Echte Profis hätten mich mit dem ersten Schlag ausgeschaltet und vermutlich auch für längere Zeit. Der Täter ist zwar stark, aber nicht sonderlich erfahren. Oder vielleicht auch erfahren, aber nicht sonderlich stark, um mich mit dem ersten Schlag niederzustrecken“, mutmaßte Thomas vorsichtig.

    „Das könnte unser Vorteil sein. Allerdings hält sich die Person oft im Hintergrund und ist somit vorerst unangreifbar. Die Frage ist, ob es sich bei Malcolm schon um das letzte Opfer gehandelt haben könnte.“, dachte Mamadou nun seinerseits laut nach.

    „Du denkst, dass wir es mit einem Serienkiller zu tun haben könnten?“, fragte Thomas ein wenig ungläubig nach, obwohl ihm der Gedanke auch schon gekommen war.

    „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Es könnte auch sein, dass irgendjemand aus Neid oder Liebeswahn alle Männer, die Jeanette nahe stehen, um die Ecke bringen möchte.“, gab der Afrikaner zu bedenken.

    „Dann wäre gerade ich primär in Gefahr.“, stellte Thomas nüchtern fest und versuchte das drückende Gefühl in seinem Magen zu ignorieren.

    „Vielleicht auch Hamit. Er springt zwar auf Jeanette nicht an, aber sie hat sich an ihm ja sehr interessiert gezeigt.“, stellte Mamadou weiterhin fest.

    „Wenn ich aber näher überlege, dann kann diese Theorie doch nicht stimmen.“, warf Thomas nach einer Weile kopfschüttelnd ein.

    „Wieso nicht?“, fragte Mamadou ein wenig erstaunt.

    „Der Täter hätte mich eben einfach töten können. Spätestens als ich bewusstlos war oder auch schon vorher. Er hätte statt dem Zahnputzbecher ein Messer nehmen können oder irgendetwas anderes. Somit hat man es wohl nicht auf alle Liebhaber von Jeanette abgesehen“, argumentierte Thomas.

    „Da muss ich dir wiederum widersprechen. Der Tod von Malcolm war perfekt bis ins kleinste Detail vorbereitet. Du bist unerwartet dazwischengeplatzt. Der Täter ist hier überrascht worden und hatte möglicherweise gar keine Waffe dabei. Außerdem hat er durch den Lärm Angst gehabt, dass er entdeckt werden könnte. Ich war ihm ja auch tatsächlich auf den Versen. Er stand unter Zeitdruck und wollte entkommen.“, vermutete Mamadou.

    „Dann habe ich deinem Erscheinen praktisch mein Leben zu verdanken.“, stellte Thomas schaudernd fest und sah betreten zu Boden.

    „Das kann sein. Das ganze Raten hilft uns aber überhaupt nicht weiter. Wir sollten diese Nacht unsere Türen vorsorglich abschließen und am nächsten Morgen müssen wir die Wahrheit verkünden. Es ist einfach inzwischen zu viel geschehen. Wir werden die Polizei über das Funkgerät der Yacht verständigen und Befragungen anstellen.“, gab sich Mamadou entschlossen und energisch.

    „Die Befragungen werden allerdings kaum helfen. Die Anwesenden werden sich gegenseitig zerfleischen. Das Alibi wird auch immer dasselbe sein. Alle waren brav und allein auf ihren Zimmern.“, stellte Thomas mit einem weitaus pessimistischeren Tonfall fest.

    „Das Problem ist, dass solche Aussagen absolut kein vernünftiges Alibi darstellen. Jede Person hätte sich eben aus ihrem Zimmer schleichen können. Wir sollten aber darauf hoffen, dass der Täter oder die Täterin bei dem Verhör nervös wird und irgendeinen Fehler macht oder sich einfach verplappert.“, wandte Mamadou mit einer positiveren Nuance ein.

              Plötzlich torkelte eine dunkle Gestalt durch die leicht offenstehende Zimmertür und starrte die beiden Anwesenden mit großem Erstaunen an. Es handelte sich um Fatmir, der sichtbar betrunken war und sich lallend umwandte. Thomas erinnerte sich daran, dass er vorher noch als Letzter im Speisesaal gewesen war.

    „Das... ist ... ja ... gar nicht... mein Zimmer, w-w-wo bin ich.... denn gelala....nach links... da...da...wird mein Zimmer sein...ja...“, brabbelte der bemitleidenswerte Albaner und verschwand wieder auf dem Flur.

    „Ihn können wir als Täter wohl auch ausschließen.“, kommentierte Mamadou trocken das Erscheinen des Alkoholsüchtigen.

    Thomas und er erhoben sich und blickten sich noch einmal in dem chaotischen Zimmer um. Der junge Schotte machte sich keine falschen Hoffnungen, denn sowohl der Brief, als auch das Glas, mit dem er attackiert worden war, befanden sich nicht mehr in dem Zimmer.

    Schließlich traten Thomas und Mamadou auf den Flur, der jetzt verlassen vor ihnen lag. Von draußen drang immer noch der Lärm des heftigen Unwetters in das düstere Schloss.

    „Ich schlage vor, dass wir uns morgen um neun Uhr in der Eingangshalle treffen. Wir werden zuerst durch den Keller gehen und nach Spuren suchen. Danach werden wir mit dem Direktor auf das Schiff gehen.“, schlug Mamadou vor.

    Thomas stimmte mit einem müden Nicken zu und die beiden verabschiedeten sich. Thomas ging zu seinem Zimmer, schloss die Tür gleich doppelt ab und wühlte in seiner Sporttasche nach einem Aspirin, da die Kopfschmerzen immer drückender wurde. Das Blut pochte gegen seine Schläfen und sein Kopf schien zerspringen zu wollen. Aus seiner Willensstärke und Entschlossenheit war eine resignierte Niedergeschlagenheit geworden. Innerhalb weniger Momente hatte sich das Blatt gewendet und Thomas hatte sich selbst enttäuscht und amateurhaft überrumpeln lassen. Was wohl sein Kollege Mamadou von ihm denken musste?

    Erschöpft legte er sich auf sein Bett und schloss die Augen. Der Schmerz ließ langsam nach und noch bevor er sich überhaupt umgezogen hatte, war Thomas bereits mitten auf dem Bett in einen unruhigen Schlaf gesunken.

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